Kapitel 9

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Jungkook war Hoseok in diesem Moment dankbarer denn je, denn die Blicke der anderen wurden weniger und der Lärmpegel stieg.

Er schluckte.

Er war diese Aufmerksamkeit nicht gewohnt. Taehyung musste sich genauso unwohl fühlen wie er—schlimmer sogar.

Vielleicht sprach Taehyung deshalb nicht.

„Es tut mir leid", murmelte Jungkook kleinlaut, denn etwas in ihm wusste, dass wenn er nicht wäre, nichts von dem passiert wäre. „Ich wünschte, ich wäre besser in Mathe. Dann müsstest du mir nichts erklären und wir hätten... das hier besser hingekriegt."

Er seufzte, als keine Antwort kam.

Taehyung schob den Zettel dann wortlos zu ihm und blickte Jungkook direkt an—so intensiv, dass Jungkook beinahe den Kopf senkte und nachgab. Taehyungs Augen waren viel dunkler als von Weitem, beinahe schwarz, umrandet von dichten Wimpern, die die Macht hatten, Mädchen eifersüchtig zu machen. Der Blickkontakt hielt nicht lange—ein oder zwei Sekunden—denn schon bald beäugte Taehyung den Zettel und schien Jungkook etwas Wichtiges mitzuteilen wollen.

„Was?", fragte Jungkook ganz atemlos. Sein Herz kriegte sich kaum in den Griff.

Dieses Mal war Taehyung an der Reihe zu seufzen. Jungkooks Atem stockte bei dem Geräusch. Taehyung deutete mit dem Finger auf die Aufgaben und schob dann einen Stift zu Jungkook. Es war Taehyungs Stift.

Jungkook wollte quietschen.

„Oh", atmete er. „Du willst... dass ich das rechne?"

Ein Nicken.

Jungkook wollte schreien—nicht quietschen.

Sein Herz schlug so schnell, dass es ihm peinlich war.

Wie konnte man auf so eine kleine Geste so stark reagieren? Was würde sein Herz tun, wenn Taehyung mit ihm reden würde? Würde es explodieren? Oder aus seiner Brust springen? Oder schreiend davonlaufen? Oder würde es vor Schock stolpern und für ein paar Sekunden still stehen? Alles klang für ihn ziemlich realistisch. Wir sprachen hier nämlich über Taehyung und sein Herz hatte offensichtlich einen Logik- und Denkfehler, wenn es ihn betraf.

Warum, fragte er sich. WarumWarumWarum

Seine Freunde würden ihn für diese Gedanken herzhaft auslachen. Yoongi hätte am lautesten gelacht; ein Lachen voller Zähne und Lebensfreude.

Hoseok hätte gesagt, dass in ihm schon immer ein kleiner Romantiker steckte, der nur darauf wartete, aus seinem Nest zu schlüpfen.

Jungkook verstand sich selbst nicht.

„Ehm..." Jungkook nahm den Stift und umklammerte ihn hilflos. Da waren plötzlich zu viele Zahlen vor ihm.

Bitte, rette mich.

„Ehm."

Die Hitze in seinen Wangen kehrte zurück, aber er konnte spüren, wie die Flecken auf seiner Haut zurückgingen.

„Welche... welche Aufgabe?", fragte er langsam—vorsichtig.

Taehyung zeigte auf die erste.

„Die ist schon ausgefüllt."

Er erntete einen genervten Blick.

„Okay, okay." Jungkook radierte das Ergebnis wieder aus. Langsam. Er konnte Taehyungs harten Blick auf sich spüren. Er radierte schneller. „Fertig. Alles wie neu!"

Dann begann er zu rechnen.

Naja, zumindest versuchte er es.

Jungkook fand heraus, dass keine Kommunikation auch Kommunikation war.

Ein einfaches Kopfschütteln, ein zustimmendes Nicken, zusammengepresste Lippen, zusammengekniffene Augen, ein missbillig verzogener Mund, angespannte Finger, angespannte Schultern... es gab so viele Wege zu kommunizieren und obwohl Jungkook noch kein einziges Wort mit Taehyung gesprochen hatte, konnte er ihn auf eine andere Art und Weise verstehen.

Wenn er zu schnell oder zu schlampig rechnete, verzog Taehyung seinen Mund.

Wenn er ein falsches Ergebnis hatte, wurden Taehyungs Augen kleiner und seine Augenfalten etwas prominenter, als würde er überlegen, wie Jungkook auf dieses Ergebnis kam.

Wenn Jungkook verzweifelt wurde, seine Finger anfingen zu zittern, weil er keine Ahnung hatte und sich schämte, wurden Taehyungs Gesichtszüge weicher, die Spannung in seinem Mund weniger. Jungkook fühlte sich dann immer wie ein Kind: klein und verloren und unwissend.

Wenn Jungkook zu lange für eine Aufgabe brauchte, tippte Taehyung ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch, als müsste er sich zurückhalten, die Rechnung nicht selbst zu rechnen.

Taehyung mischte sich jedoch nie ein und schien auch nicht das Bedürfnis zu haben, Jungkook etwas zu erklären.

Der Beste Teil an dem Ganzen war jedoch, dass Jungkook Taehyungs Atem auf seinem Nacken spüren konnte, wenn er das Ergebnis überprüfte und sich etwas näher zu Jungkook lehnte. Jungkooks Atem stockte dann immer so verräterisch und seine Brust zog sich zusammen.

„Stimmt das?", fragte Jungkook zum zwanzigsten Mal.

Er fühlte sich wirklich wie der größte Dummkopf der Nation.

Taehyung lehnte sich wieder näher zu ihm, sein Atem heiß und feucht gegen Jungkooks Haut. Er schüttelte mit dem Kopf. Ein gutriechender Duft ging von ihm aus und bevor Jungkook erahnen konnte, was genau er da roch, brachte Taehyung Abstand zwischen ihnen—Jungkooks Herzschlag wurde langsamer, ruhiger.

Zehn Minuten später: „Und das?"

Taehyung schloss die Augen als Antwort und Jungkook warf den Kopf in den Nacken und stöhnte verzweifelt.

Danach folgten mehrere „Das?" oder „Stimmt es jetzt?" oder „Ach, komm schon! Das ist jetzt aber richtig" oder „Taehyung, das stimmt, ich schwöre" oder „Taehyung, jetzt habe ich einen Buchstaben als Ergebnis" oder „Oh mein Gott, das sieht richtig aus! Ist es richtig?" oder „Tae, ich verzweifle hier, das muss stimmen" oder „Ich gebe auf!"

Dann endete die Stunde.

Taehyung stand so schnell vom Platz auf, dass Jungkook kaum reagieren konnte.

Dann ging er nach draußen.

Jungkook blickte ihm hinterher—wie immer und versuchte, ihn zu verstehen.

Doch es war schwer.

All The Words You Never Said [VKOOK]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt