Chapter 20 - Adventskalender Tür 6, 2022

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Ich starrte Connor fassungslos an. Mein Herzschlag schien unfassbar laut und die verwirrten Blicke der anderen machten die Stille noch schlimmer.
Shit.
Shit, shit, shit, es war zu spät.
Da realisierte auch Connor, was er gerade gesagt hatte.
„Oh scheiße. Du hast nicht... fuck, es tut mir so leid, Richie, ich dachte... Oh Nein..."
„Warte..." Bill runzelte die Stirn. „Bitte was?"
Beverly seufzte verzweifelt und sah mich entschuldigend an. Eddie machte ein stummes ‚Oh'. Mike sah komplett verwirrt aus.
„Kann mir irgendwer erklären, was hier los ist?"
„Oh, ich bin sicher, Connor tut das gerne, nicht wahr? Möchtest du denen alles erzählen? Mit Detail? Würde dir doch Spaß machen, oder etwa nicht?" Ich funkelte ihn feindselig an und schubste ihn zur Seite um zur Leiter zu kommen.
„Richie, bitte, ich dachte wirklich... du hast gesagt, du hättest es ihnen erzählt!"
„Ach, jetzt bin ich wieder Schuld, oder was?! Weißt du was, wenn du es anscheinend doch nicht machen willst, sage ich es! Ich bin schwul, ich habe euch jahrelang angelogen, selbst ES wusste es vor euch und hat mich damit terrorisiert, genauso wie Henry Bowers oder Patrick Hockstetter. Aber das war ja irgendwie nie Thema, weil Schwuchteln sind sowieso total unwichtig und unbekannt, da bekommt man das ja gar nicht mit. Ach übrigens, ich hab auch Connor gefickt. Seid ihr jetzt alle zufrieden?!", schrie ich und lief zur Leiter. Auf halbem Weg nach oben durchzuckte mich plötzlich ein Gedanke und ich drehte mich nochmal um.
„Ach, wo wir gerade dabei sind, scheiß drauf, ich sag's jetzt einfach: Eddie, ich liebe dich. Kannst mich ja steinigen, wenn du willst."
Dann flüchtete ich aus dem Clubhaus.
Na klasse, jetzt regnete es auch noch.
Aber niemals würde ich diesen Bunker wieder betreten.
Niemals.

***

Zitternd hockte ich im Abwasser und schlang die Arme um mich.
Ich würde hier erfrieren. Oder an einer Blasenentzündung sterben. Oder ES kam endlich aus dem scheiß Gulli raus und fraß mich.
Es war dieselbe Stelle, an der wir Bettys Schuh entdeckt hatten. Als Stanley Angst vor dem Efeu hatte und Eddie uns das Grauwasser erklärte.
Als noch alles gut war, kurz bevor die Katastrophe über uns hereinbrach.
Ich wünschte, sie würde es wieder tun.
Endgültig.

„Richie!", rief jemand außer Atem.
Nein. Nein, nein, nein, sie sollten mich jetzt nicht suchen und schon gar nicht finden, nicht jetzt, vielleicht ein paar Stunden später, nur nicht jetzt...
„Rich!" Schuhe platschten durch den Matsch und wenige Momente später tauchte Stans durchnässter Lockenkopf im Eingang des Abwasserrohrs auf. „Richie, was machst du hier? Ich hab dich überall gesucht!" Er stieg vorsichtig in den Gang und verzog das Gesicht, als er knöcheltief ins Grauwasser trat.
„Was machst du hier?", wiederholte er seine Frage.
„Du wirst dreckig und krank. Geh wieder."
Doch Stan kam zu mir und lehnte sich an die glitschige Wand.
„Du musst aufstehen, Richie,wir müssen zurück, du musst duschen und dich umziehen und ins Warme."
Ich schwieg. Stanley seufzte.
„Komm schon, rede wenigstens."
„Ich habe nichts mehr zu sagen."

Schweigen.
Seufzend drehte ich ihm den Rücken zu und legte das Kinn auf meinen Armen ab. Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen..?
„Eddie also."
„Ja, Eddie, der sich letztens noch versichert hat, dass ich auch wirklich nicht schwul bin. Perfekt, oder? Ich kann jetzt auch einfach für immer hier bleiben..."
Stan lachte auf. „Machst du Witze? Bei Eddie hast du noch die besten Chancen. Er würde dich niemals absichtlich verletzen oder dich wegstoßen, nur weil du schwul bist. Er hat zumindest schweigend zugehört und genickt, als Beverly erklärt hat. Ich glaube nicht, dass er das damals wirklich Ernst meinte."
...was? Irgendwas an Stan's Worten war komisch. Irritiert wandte ich mich ihm zu.
„Was meinst du mit ‚zumindest'?"
Stan starrte düster geradeaus.
„Bill. Er ist nicht gerade glücklich darüber, dass du das verschwiegen hast."

Er drehte den Kopf und sah mich an. „Wieso hast du nie was gesagt..?"
„Wieso hätte ich was sagen sollen? Alle haben mir immer nur zu verstehen gegeben, dass Schwuchteln scheiße sind, ekelhaft und unnatürlich, warum hätte ich mich freiwillig als sowas darstellen sollen?"
„Wer sind denn ‚alle'?"
„Na... alle! Ständig! Die Gesellschaft, Henry, Patrick, alle!"
„Oh, ja, ich muss in unserer Freundschaft wohl den Teil verpasst haben, in dem wir gemeinschaftlich beschlossen haben uns zu ändern, um in die Gesellschaft reinzupassen. Die sind doch überhaupt nicht wichtig, Richie! Die Gesellschaft wird uns eh nie akzeptieren, wir sind die Loser, hast du das schon vergessen? Aber unter uns Losern, da sind wir doch sicher. Unter uns müssen wir ehrlich sein. Was sind wir sonst? Fremde?"
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie das ist!" Ich sprang auf und holte gerade Luft um ihm noch mehr an den Kopf zu werfen, da unterbrach er mich schon.
„Ach, ich hab keine Ahnung?! Ich, der Jude, der vor nicht allzu langer Zeit in Europa noch verbrannt worden wäre? Der hier seit seiner Geburt gehasst wird? Bei dem du der einzige warst, der überhaupt zu meiner Bar Mizwa aufgetaucht ist? Der von ES die Zähne ins Gesicht gegraben bekommen hat und der erst seit kurzer Zeit über seinen Schwarm Bill fucking Denbrough hinweggekommen ist?!"
„Hast du gerade geflucht? Warte, warte, warte, was?!" Ich starrte Stan entgeistert an.
„Ja, Richie, genau das ist dein Problem! Du denkst immer nur an dich und nie daran, dass andere vielleicht auch Probleme haben. Ich bin bisexuell und im Gegensatz zu dir habe ich es nicht in mich hineingefressen bis es mir um die Ohren fliegt, sondern es Ben erzählt und wir sind in die Bibliothek gegangen und haben recherchiert. Was das bedeutet, woher das kommt, wie die rechtliche Lage ist, was der CSD macht, einfach Information einholen und auswerten. Ben ist gerade oben bei den anderen und verteidigt dich komplett. Genau wie Beverly übrigens. Ich muss dir wohl zu Gute halten, dass du es überhaupt irgendwem gesagt hast." Stanley seufzte. „Man Richie, wir hätten dich doch niemals verstoßen. Du bist einer von uns, egal ob das an deiner Brille liegt oder deinem Schandmaul oder deiner Sexualität."
Und das hätte ich die ganze Zeit haben können..? Warum hatte ich entschieden, zu schweigen? Warum hatte ich entschieden, allein zu sein?
Ich schluckte schwer.
„Warum hast du nichts gesagt..?"
„Weil es nicht wichtig war. Ich hatte das Privileg, dass es außer Ben wirklich niemand wusste und Bill ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stockhetero. Außerdem ist der mit Beverly zusammen, also hätte ich eh keine Chance gehabt." Er zuckte mit den Schultern und sah mich traurig an. „Bei dir ist das was anderes. Es... es tut mir wirklich leid, dass ich nie gemerkt habe, wie schlimm das für dich war... eine Ahnung hatte ich wohl schon länger..."

Stumm zog ich ihn in meine Arme und drückte ihn an mich.
Stan ließ es zu.
Ich legte den Kopf auf seiner Schulter ab und seufzte.
Es tat sooo gut, nicht mehr alleine zu sein.

„Wie haben die anderen reagiert?", fragte ich, als wir uns wieder gelöst hatten.
Stan schmunzelte. „Also Eddie schien sich am meisten Sorgen um dich zu machen." Er zwinkerte und ich musste kurz grinsen. Süß...
„Mike war verwirrt und brauchte eine Erklärung, aber die hat er dann auch angenommen und gemeint, es wäre nicht wichtig für ihn. Nur Bill... ausgerechnet Bill..." Sein Blick verdunkelte sich.
Natürlich nahm ihn das am meisten mit. Das war ja sein Crush gewesen.
Hätte er mir gesagt, Eddie wäre tatsächlich homophob, wäre ich noch viel zerstörter gewesen.
Aber auch ich war sauer.
Bill war auch mein bester Freund, wieso nahm ausgerechnet er sich raus, über meine Sexualität zu urteilen?

„Komm, lass uns zurück."
„Na endlich! Es ist arschkalt, eklig und dreckig. Warum musstest du dich ausgerechnet im Abflussrohr verstecken?"
„Sorry, ich konnte ja nicht ahnen, dass King Uris nicht mit seinem Volk Urin klarkommt."
„Ha ha halt die Klappe."
Ich lachte nur und machte mich auf den Weg zum Clubhaus.

Reddie to love? Where stories live. Discover now