12. Dezember

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Am nächsten Morgen schleiche ich die Gasse hervor. Hoffentlich ist diese wahnsinnige Frau jetzt weg.

Ich spähe um die Ecken. Niemand da. Ein Glück.

Dass die Menschen mich nicht mögen, weiß ich schon. Aber dass sie grundlos versuchen, mich umzubringen, ist mir noch nie passiert. Hat die Frau direkt mich gesucht oder kam sie nur zufällig vorbei, um ihren Frust an irgendetwas auszulassen?

Ich lege mich auf die zerfetzte Pappe, die einst mein Dach war. Das Kind hatte mir so viel gegeben - mehr als ich je ein anderer zuvor - und irgendeine Frau kommt und zerstört alles, was ich hatte.

Was wird das Kind davon halten, wenn es die Überreste seiner Arbeit sieht? Wird es denken, ich war das? Wird es mir ein neues Zuhause schenken?

Diesen Abend komme ich spät zurück. Ein letztes Lebewohl, dann werde ich weiterziehen und mir einen anderen Schlafplatz suchen, an dem mich die Menschen nicht so leicht finden.

Vor der Pappe liegt sogar noch ein durchgeweichter Happen der Mahlzeiten, die das Kind mir immer mitgebracht hatte. Ich lasse mir den Geschmack lange auf der Zunge zergehen. Wird es mich wiederfinden, wenn ich weiterziehe? Wird es überhaupt nach mir suchen?

Etwas weiter zur Straße hin liegt noch ein Happen. Das Schicksal will meinen Abschied zur Qual machen, oder?

Auf dem Gehweg liegt wieder eines. Oder es will mir eine Spur legen, der ich folgen soll.

Viel habe ich jetzt sowieso nicht mehr zu verlieren. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass diese gewalttätige Frau mir eine Falle stellt, um mir richtig weh zu tun. Dann weiß ich wenigstens, dass sie es auf mich abgesehen hat.

Die Spur führt mich über Straßen und immer weiter weg vom Trubel der Innenstadt. Um mich herum verschwinden die Läden, Restaurants oder Imbissstände, werden von einzelnen Häusern ersetzt, in denen Familien wohnen und inzwischen schon lange schlafen. Irgendwo im Warmen unter einer Decke mit Menschen, denen sie etwas bedeuten.

Kurz vor einem verschneiten Feld führt die Spur zwischen zwei einstöckige Häuser hinter die Mülltonnen. Ein Miniaturhaus steht an der Wand, sein Eingang gerade groß genug für mich. Davor eine Plastikschale randvoll mit meinem Mahl.

Eine rote Schleife mit einem kleinen Glöckchen prangt über dem Eingang.

Mir entfährt ein ungläubiges Jaulen. Ist das der Ort, an den das Schicksal mich bringen wollte?

Ich tapse wieder vor die Mülltonnen. Niemand da. Keine wild gewordene Frau. Gut.

Also inspiziere ich das selbstgenagelte Häuschen. Die Bretter stehen schief, die Abdeckung auf dem Dach ist an manchen Stellen von Eichhörnchen oder Mäusen aufgerissen worden und ein, zwei rostige Nägel gucken gefährlich scharf aus dem Holz hervor.

Doch alles in allem der wohl bequemste Platz, den ich mir vorstellen kann.

Ich esse ein wenig, bevor ich mein erstes richtiges Heim betrete. Es ist klein, aber gemütlich. Ein samtig weiches Kissen mit kleinen Löchern, aus denen das Innenfutter heraussteht, begrüßt mich und auch die Wände sind mit einer Decke ausgekleidet.

Das Häuschen ist so einladend, dass ich Stunden brauche, bis ich endlich einschlafen kann. Mein eigener Geist hat mich doch nicht vergessen.

Ein Geist im SchneeWhere stories live. Discover now