24. Dezember

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Was will die Frau von mir, dass sie schon wieder hier ist?

Ich rapple mich auf meine Beinchen – eines davon eingegipst und starr wie ein Eiszapfen – und stakse von ihr weg in die hinterste Ecke meines kleinen Räumchens. Verschwinde.

Sie legt eine Handvoll Häppchen wie die der Kinder vor meinen Stoffdoppelgänger, den sie mir über Nacht hingestellt hatte. Erst alles anschreien und zerstören und dann zurückkommen und um Verzeihung bitten? Als ob ich vergessen hätte, was du dem Kind und mir angetan hast!

Die verweinten Augen der Frau sehen mich voll Verzweiflung an, ihre Unterlippe zittert. Sie zieht die Hand zurück und bleibt reglos sitzen, blickt zu mir.

Ich esse nicht – demonstrativ. Bring mir das Kind, dann können wir reden.

Eine der Mitarbeiterinnen von ... wo auch immer ich hier eigentlich bin ... stellt eine riesige Kiste vor mein Räumchen und öffnet den Deckel. Die Frau stellt mein deutlich gesünderes Ebenbild in die Kiste.

Oh, nein. Nicht mit mir, ich gehe nicht!

Doch die Mitarbeiterin hat mich bereits fest im Griff. Kein Zappeln, keine Diskussion bringen etwas.

Im nächsten Moment sitze ich mit dem Plüschtier in der Kiste. Ich hasse diese Frau. Die Box mitsamt mir wird hochgehoben und getragen. Ich sitze darin und werde durchgeschaukelt wie vom Mann im Laden, der mir das Bein verdreht hat. Bloß nicht schon wieder!

Minuten und eine Übelkeit erregende Autofahrt später wird die Kiste noch ein Stück getragen und schließlich geöffnet.

Ich zische die Frau an. Spinnt die total?

Sie hebt mich hoch. Was soll ich auch dagegen machen, so wie ich schon beim Gehen schwanke? In einem Nebenraum setzt sie mich auf einem Bett ab.

Dem Bett meines Kindes!

Sie stellt meinen neuen Doppelgänger neben mich an die Wand und sieht uns beide an. Dann weint sie wieder und kauert sich mitten ins Zimmer meines Kindes.

Ist nicht wahr, Frau?! Wo ist das Kind? Wo ist mein Geist?

Sein Geruch ist hier – unverkennbar – aber er ist alt. Tage alt. Frau, du hast mein Kind nicht wirklich rausgeschmissen, oder?!

Jetzt starre ich sie an: fassungslos. Wieso sitzt sie nur da und weint, statt nach dem Kind zu suchen?

~*~

Irgendwann, es müssen Stunden vergangen sein, schrillt ein Klingeln durch die Räume und die Frau springt auf, rennt zum Telefon.

Endlich unbeobachtet suche ich das Bett meines Kindes ab. Die Decke ist sauber gefaltet und neben dem Kopfkissen liegt eine Reihe von Kuscheltieren. Der weiße Hase mit roter Glöckchenschleife fehlt. An seiner statt sitzt nun mein Doppelgänger.

Unterdessen sinkt die Frau erneut auf den Boden. Aus dem Telefon schreien atemlose Tiraden eines Mannes sie an. Ihre Hand mit dem Lautsprecher liegt auf ihren Knien, aber das Schallen dringt noch bis zu mir durch.

Ich lasse mich vom Bett fallen und hinke aus dem Zimmer meines Geistes. An den Wänden im Flur hängen Fotos in hölzernen Rahmen. Fotos von meinem Kind und der Frau. Fotos mit Löchern, wo einst eine weitere Person gewesen sein musste.

Das Drohen am Telefon weicht einem monotonen Piepen. Die Frau starrt leer zu Boden.

Ich humpele weiter. Die Küche kenne ich schon, aber vier weitere Räume bleiben noch. Ein Wohnzimmer, ein Bad, das Schlafzimmer der Frau und eine verschlossene Tür.

Die Frau blickt gleichgültig zu mir, als ich vor der letzten Tür sitzen bleibe. Sie steht zwar auf, aber statt mir zu öffnen, geht sie in die Küche. Es raschelt und platscht und sie kommt mit einer Schale Essen und einer Schale Wasser wieder, die sie beide ins Zimmer des Kindes stellt.

Glaub nicht, dass du mich damit überzeugen kannst, Frau.

Trotzdem gebe ich meinem knurrenden Magen nach und esse ich ein paar der Häppchen wie von den Kindern.

Von dem Kind, das jetzt nicht mehr hier ist.

Schließlich lege ich mich auf den Boden, sehe zur Tür und warte.

Frau, was hast du nur getan?

~*~

Es ist stockdunkel, als ein Bimmeln mich weckt.

Keine zwei Atemzüge später reißt die Frau die Haustür auf.

Erleichterte Männerstimmen reden mit ihr und verabschieden sich bald wieder. Als sie die Tür schließt, schiebt die Frau das Kind vor sich ins Haus. Dunkelviolette Ringe fressen sich unter seine Augen, tiefe Hohlräume in seine Wangen und braune Flecken ins Fell des weißen Hasen, aber das ist mein Kind!

Mein Geist!

Ich jaule auf. Du bist wieder da! Ich meine, ich bin wieder da! Wo warst du?

Tränen rinnen sein Gesicht hinunter und es rennt auf mich zu, hält kurz vor mir inne und betrachtet mein Bein. Dann umarmt es mich vorsichtig mit eiskalten Fingern.

Ich habe es dir doch versprochen, mein Kind: dass ich immer bei dir sein werde! Dass ich deine Familie bin – dein Zuhause!

Und ich glaube, mein Geist, ich habe es jetzt auch gefunden: Mein Zuhause, zu dem ich immer zurückkehren kann und meine Familie, bei der ich willkommen bin. 

Ein Geist im SchneeWhere stories live. Discover now