15. Dezember

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Eigentlich wollte ich heute ausschlafen, mir dann eine ordentliche Mahlzeit gönnen und anschließend meine Umgebung erkunden. Scheint, als sollte ich dazu keine Gelegenheit bekommen.

Lautes Scheppern und Gebrüll reißen mich aus meinen Träumen. Die Frau?

Nein. Eine Haustür. Mein Geist hatte sie zugeschlagen und steht jetzt schreiend vor ihr, als würde sie antworten.

Ich schleiche mich an die Hauskante meines Nachbargebäudes und sehe dem Kind nach. Glänzende Spuren ziehen sich über seine Wangen, Tränen tropfen auf seine Jacke. Mein Geist packt seinen Rucksack, setzt ihn auf und geht leise fluchend.

Jetzt weiß ich, was ich heute tun werde: Ich zahle es dem Menschen, der es gewagt hat, mein Kind zum Weinen zu bringen, heim! Nie wieder soll mein Geist so traurig und wütend sein wie jetzt!

Nach meinem Frühstück spitze ich die Ohren. Ich werde gehen wie ein Geist und finden, wer das getan hat!

Alles still. Über den Garten des Nachbarhauses pirsche ich in den Garten des Kindes. Eine unberührte Schneedecke. Eichhörnchen, Hasen, die letzten Vögel, aber keine Menschen, die hier ihre Spuren hinterlassen haben.

Meine frierende Haut setze ich ganz nah am Zaun in den Schnee und schleiche zum Haus. Ein Geist hinterlässt keine Fährten. Erst am Fenster zum Garten hinaus springe ich auf den davorstehenden Tisch. Mit jedem meiner Schritte verwische ich meine Abdrücke im weißen Puder. Vorsichtig hebe ich den Kopf, luge in das Fenster über mir. Sieht nach einer kleinen Küche aus.

Ich höre eine Stimme durch das spiegelnde Glas und die Tür fliegt auf.

Dann presse ich mich ganz fest unter das Sims.

Das ist die Frau! Die, die mir mein erstes Zuhause weggenommen hat. Was macht sie hier? Hat sie mich gesucht? Hat sie das Kind gefunden und will ihm das Gleiche antun wie mir?

Keinen einzigen Atemzug wage ich. Ich bin ein Geist. Ein Geist atmet nicht. Ein Geist versteckt sich vor den Augen der Menschen.

Im Haus klirrt etwas entsetzlich und klingelt in meinen Ohren. Hat sie mich gefunden? Will sie mich wieder jagen?

Ich schleiche rückwärts zurück zu meinem Häuschen und verstecke mich. Sie wird mich finden! Sie wird mich wieder finden!

Stunden später stolpert das Kind auf das Haus zu. Nein! Geh nicht rein!

Es hört mich, sieht mich; kommt zu mir. Genau. Zu mir, nicht zu ihr!

Beinahe unachtsam wirft es seinen riesigen Rucksack an die Wand und sinkt dann neben mir in den Schnee. Eine lange Zeit redet es mit mir, weint, flucht, vergräbt das Gesicht in den Händen.

Diese Frau ist ein Monster.

Ein Geist im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt