19. Dezember

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Ich wagte nicht, die Nacht in meinem Häuschen zu schlafen. Die Frau wird kommen. Sie wird mich fangen und umbringen!

Am Morgen krieche ich aus meinem Versteck an einem anderen Nachbarshaus. Jetzt ein Frühstück? Steht die Frau heute wieder so spät auf? Dann hätte ich eine Chance, unbemerkt zu essen.

Und danach gehe ich fort. Hier bin ich nicht mehr sicher.

Die freie Fläche zwischen den Häusern ist leer, das Auto der Frau steht noch. Hinter den zugezogenen Fenstern brennt kein Licht. Jetzt oder nie!

Ich flitze von Haus zu Haus, zu meinem einstigen Zuhause. Nichts, tatsächlich.

Mein Zuhause ist weg. Ein Schatten frei von jedem Schnee prangt dort, wo mein Häuschen bis gestern noch stand.

Einfach nichts.

Die Schale für mein Frühstück ist ebenfalls weg. Die Zeit eines warmen, geschützten Schlafplatzes und regelmäßigen, ausreichenden Mahlzeiten ist endgültig vorbei. Mein Zuhause existiert nicht mehr.

Ein letztes Mal springe ich beim Nachbarshaus ans Fenster. Das kleine Kind von gestern liegt in seinem Bett und starrt an die Decke. Ich klopfte zaghaft an die Scheibe. Leb wohl, Kleines.

Das kleine Kind schreckt hoch und sieht zu mir. Behutsam springt es von seinem Bett, kramt in einer Schublade des Schrankes und holt einen kleinen Beutel hervor. Es geht zum Fenster, klettert auf die Fensterbank und hievt den Griff empor, um mich reinzulassen. Schließlich legt es ein paar Häppchen gerettetes Frühstück vor mich.

Wirklich? Wegen mir hast du dich verletzt und wurdest ebenso angeschrien wie ich.

Das Kleine nickt mir zu, flüstert ruhige Worte. Es leert seinen Beutel und schiebt alles zu mir. Große Augen schimmern, bis sie überlaufen und als Tränen auf die Fensterbank tropfen.

Ich esse. Allein um des kleinen Kindes wegen. Mein Frühstück schmeckt bitter. Ich danke dir, Kleines.

Nach dem letzten Lebewohl gehe ich. Mein Geist wartet sicher auch schon.

Vor der Ziegelsteintreppe liegen Stofffetzen. Ein strahlendes Glasauge in der Farbe meiner eigenen blickt mich leer an. Künstliche Haare, zum Verwechseln ähnlich zu meinen, liegen überall in Büscheln herum.

Diese Frau! Diese wahnsinnige, grausame Frau!

Unter dem Fenstersims spähe ich vorsichtig ins Zimmer meines Kindes. Es schläft noch, den weißen Hasen mit der roten Glöckchenschleife fest an der Brust.

Soll ich warten, bis es wach ist? Wird es vor der Frau wach oder wird sie mich dann schon lange suchen?

Ich berühre die kalte Glasscheibe. Wenn mein Kind aufsteht, werde ich schon gegangen sein.

Leb wohl, mein Geist. Ich werde dich vermissen.

Danke für die letzten Tage, in denen ich so viel Spaß und Freude hatte wie noch nie. Danke für euren Unterschlupf, für das Kissen und für jede Mahlzeit. Danke für die Freunde, die du mit mir geteilt hast und dafür, dass ich jemanden hatte, dem ich vertrauen konnte.

Danke für alles, mein Geist.

Ein Geist im SchneeWhere stories live. Discover now