VERRATEN.

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Den Vormittag verbringe ich damit, die Kuscheltiere von Anna und Laura zu verarzten. Ich wickle Pingus Arm in einen Verband und auf die Schnauze von Lauras Krokodil klebe ich ein großes Pflaster. „Ich verschreibe absolute Ruhe!" ich hebe den Zeigefinger. Die Kleinen kichern und bringen ihre Patienten ins Bett.

Ich schlendere über die Wiese und setze mich auf die kleine Bank neben dem Fluss. Das Wasser rauscht gleichmäßig und irgendwo in der Nähe zirpen Heuschrecken. „Na, waren die Kuscheltiere schwer verletzt?" Valerie kommt auf mich zu und deutet hinter sich auf die Zelte. „Ja." Ich grinse. Ich glaube, Lauras Krokodil hat nach Pingu geschnappt und mächtig eins auf die Schnauze bekommen", sage ich und mache mit der Hand eine Bewegung, als würde ich einen Nagel in ein Brett hämmern. „Ha! Der erste Streit im Camp und schon gibt's Verletzte". Wir müssen lachen und sie setzt sich zu mir auf die Bank.

„Darf ich dich was fragen?" sie dreht sich zu mir. „Sicher", sage ich obwohl ich mir nicht so sicher bin. „Is alles ok zwischen dir und Raphael?" „Wieso fragst du?", ich ahne jedoch, was sie meint. „Naja", sie zupft an ihrem Ärmel. „Gestern war da so eine Spannung. Also ich kanns nich' beschreiben. Dennis sagt das aber auch", sie sieht mich an. „Irgendwie war das gestern seltsam zwischen euch."

Ich schlucke. Für mich war es auch seltsam. Doch was hat sie gesehen? Hat sie diese seltsame Verbindung gespürt? Zwischen uns. Für einen Moment? Ich habe Angst, dass sie mich für verrückt hält und sage deshalb nicht, was ich denke. „Was meinst du mit seltsam?" frage ich vorsichtig und sehe sie an. „Naja", sagt sie wieder und zuckt mit den Schultern. "Es war, als wären wir nicht mehr da. Irgendwie komisch. Und ich wusste nich', ob ihr euch streitet oder nur redet oder so."

Sie hat es also auch gemerkt. „Ja", sage ich. „Ich wusste es auch nicht." Ich reiße einen langen Grashalm aus. „Ich war sauer auf ihn, wegen der Bemerkung mit Tobi. Und ich wollte wissen, warum er Sozialstunden machen muss." Ich wickle den Grashalm um meinen Daumen. „Ich schätze, ich war einfach neugierig." „Okay", sie nickt. „Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist."

Sie ist so einfühlsam. Ich freue mich, dass ihr das so wichtig ist. „Danke" ich flüstere und sie zwinkert mir zu. Sie ist so sensibel und ehrlich. Vielleicht kann ich ihr ja erzählen, dass ich das Gefühl habe, dass ich seine Blicke spüren kann. Am ersten Tag, auf der Wiese. Diese sanfte Berührung an meiner Schulter. Und heute Morgen. Wieder diese Berührung. Die Blase um uns herum am Feuer, die sie auch bemerkt hat. Ob er das auch spürt? Ich muss mit jemandem darüber sprechen. Doch bevor ich mit ihr darüber spreche werde ich Eve anrufen. Ihr vertraue ich, seit ich denken kann. Sie ist meine Seelenverwandte, mein Halt und meine Stütze. In den letzten Monaten sind wir noch ein Stück näher zusammengewachsen. Ich hätte nicht geglaubt, dass das überhaupt noch möglich war. Sie hat sich rührend gekümmert, mitgefühlt, mit mir geweint und mir zugehört. Sie war immer da. Tag und Nacht. Sie hat mich ins Leben zurückgeholt. Sie ist wie eine Familie. Ich denke, sie ist die richtige, wenn es darum geht, meinen Geisteszustand zu beurteilen.

Als Valerie wieder bei Dennis ist fische ich mein Handy aus der Tasche meiner Jeans und zeichne den Stern auf das Display. Ich tippe auf meine Favoritenliste und auf Eves Namen. Ich schlendere zu einem großen Baum am Waldrand. Hier bin ich ungestört und kann meine Gedanken laut aussprechen. Es klingelt in der Leitung. Ich bin aufgeregt. Wie wird sie reagieren, wenn ich ihr sage, dass ich Raphaels Blicke spüren kann?

„Hi, Hannah!" sagt Eve hektisch. „Hey, Eve. Na, ist alles klar?" „Äh... ja", sie flüstert. „Sorry, dass ich dich noch nicht zurückgerufen habe." Ich kratze mit dem Fingernagel an der Baumrinde. „Das macht nichts. Ich hab das Camp gefunden." Ich lache, doch sie ist stumm. „Eve?" Sie wirkt abwesend. Was ist los mit ihr? „Ja?" „Wieso flüsterst du?" Ich breche ein Stück der Rinde ab. Mir steigt der Geruch von nassem Holz in die Nase. „Meine Mom schläft nebenan." „Ach so. Wie geht es ihr denn?" frage ich. „Gut." Auch wenn sie nur kurze Antworten gibt, bin ich froh, ihre Stimme zu hören. Sie ist mir so vertraut.

Ich lehne mich mit dem Rücken an den Baum. Ich schließe meine Augen und Atme tief ein. „Eve, ich muss dir was erzählen. Ich bin so... verwirrt. Ich muss wissen, ob ich verrückt werde." Ich bin unsicher, wie sie reagieren wird. „Ich kann das alles nicht genau beschreiben, aber ich habe..." ich werde unterbrochen. „Babyy?" Wer...? Was...? Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich kenne diese Stimme. Das leise surren seiner Stimme, wenn er spricht. Ich kenne den Kosenamen, bei dem er das y extra lang spricht. Ich kenne ihn und er ist bei ihr.

hold me tight.Where stories live. Discover now