ABGELENKT.

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Ich fühle mich schwach. Ich lege mich auf die Luftmatratze und schließe meine Augen. Die Luftmatratze ist weich, sie bewegt sich unter meinem Körper, schaukelt mich wie eine Wiege. Es fühlt sich an wie sanfte Wellen, die gegen meine Matratze schwappen. Es ist beruhigend. Mein Körper wird schwer, die Geräusche um mich herum verblassen.

Ein kreischendes Kind neben dem Zelt lässt mich aufschrecken. Ich öffne meine Augen. Es ist schon dunkel, ich bin eingeschlafen. Wie spät ist es? Ich blicke auf mein Handy und zeichne den Stern auf mein Handydisplay. Habe ich das alles nur geträumt?

Ich habe vier verpasste Anrufe von Eve und einen von Tobi. Nein. Es war kein Traum. Dass sie es wagen, mich anzurufen! Sie haben mir alles genommen. Alles. Meine Liebe, meine Hoffnung. Meine Beziehung, meine Freundschaft und mein Zuhause. Ich habe nicht einmal mehr eine Wohnung, in die ich nach dem Camp zurück kann. Ich bin obdachlos. Wo soll ich jetzt hin? Ich werde morgen meine Eltern anrufen. Sie freuen sich bestimmt, wenn ich wieder bei ihnen bin. Zumindest für eine kurze Zeit. Von ihrem Haus ist es zwar viel weiter bis zu meiner Arbeit als von Eves Wohnung, aber ich habe keine andere Wahl. Schon wieder habe ich keine Wahl.

Die Luft im Zelt ist stickig, es kommt mir viel kleiner vor. Meine Brust drückt, ich brauche Luft und atme tief ein. Das kleine Briefchen an auf meinem Display kündigt zwei neue SMS an. Ich tippe auf die erste. Mit einem Blinken öffnet sie sich.

Hannah es tut mir so leid!!! Bitte lass uns reden! Sie ist von Eve. Ich lösche die Nachricht. Ich will nicht reden. Ich will ihre Lügen nicht hören. Ich habe Eve vertraut. Sie war alles für mich. Alles. Sie hat mein Vertrauen missbraucht. Auf die schlimmste Art, wie sie es nur missbrauchen konnte. Sie hat mich mit meinem Freund betrogen. Und er mich mit meiner besten Freundin. Ich werde ihr nie wieder glauben können. Wann hört das endlich auf? Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal mehr, was ich fühlen soll. Und ich wäre sogar froh, wenn ich nichts mehr fühlen würde.

Ich tippe auf die zweite SMS. Sie ist von einer unbekannten Nummer. Ich öffne die Nachricht.

du kannst nichts dafür -R.

Ich erstarre kurz, denn die Signatur ist eindeutig. -R. Mein Körper beginnt zu kribbeln. Die SMS ist von Raphael. Woher hat er meine Nummer? Ich kann mich nicht erinnern, ihm meine Nummer gegeben zu haben.

Danke! Woher hast du meine Nummer?, schreibe ich schnell und tippe auf den Pfeil. Ich wollte nie Kontakt zu ihm. Die wenigen Male, die ich ihn sehen musste waren viel genug. Die arrogante Art, mit der er auf mich herab gesehen hat. Das Schmunzeln, wenn er gegen mich gestichelt hat. All das war mir unangenehm. Wieso ist er jetzt so anders? Seine Umarmung hat mir gut getan. Er war so einfühlsam. Ich hätte nicht gedacht, dass er so sein kann. Mein Display leuchtet auf.

ich kann alles besorgen wenn ich will -R.

Ich bezweifle es nicht. Er kennt Mittel und Wege sich das zu nehmen, was er will, wann er will, wenn er will. Ich lese die SMS noch einmal. ich kann alles besorgen wenn ich will -R.

Er hält es wohl nicht für nötig, die Groß- und Kleinschreibung zu beachten oder Satzzeichen zu verwenden. Nur bei seiner Signatur. Wieso macht er unter jede SMS seine Signatur? Das ist doch nicht nötig, wenn man in den Kontakten eines anderen gespeichert ist. Ich will gar nicht wissen, wie viele Nummern er schon besorgt hat und seine Signatur dabei ganz hilfreich war. Ich tippe auf Kontakte und dann auf speichern. Wie soll ich ihn speichern? Raphael Russ, Russ Raphael, Raphael R.? Nein. Ich tippe -R. und grinse.

Ich hatte das Gefühl, dass er es ernst meint. Dass er wollte, dass ich mich nicht schuldig fühle. Ich scrolle nach oben und lese seine erste Nachricht noch einmal. du kannst nichts dafür. Mein Körper kribbelt wieder, als ich seine Nachricht lese. Wie gerne würde ich das glauben.

Mir gefällt, dass er mir schreibt, dass er an mich denkt. Es ist schön, dass er sich um mich kümmert. Es hat mir heute so gut getan, dass er für mich da war. Durch die dünne Zeltwand dringt das Kichern der Kinder und Stimmengewirr. Die Stimmen kommen vom Lagerfeuer. Heute erzählt Dennis seine Gruselgeschichte. Am liebsten würde ich mich in meinen Schlafsack verkriechen und mich in meinem Schmerz baden.

Andererseits würde ich gerne hingehen, weil sich die Kinder schon so darauf freuen. Die kleine Anna war heute Morgen schon ganz aufgeregt. „Ist das eine richtig gruselige Gruselgeschichte?" hat sie gefragt. Für die Kinder wird das heute richtig toll. Und Raphael wäre da. Ich würde ihn gerne sehen. Wenn er mich ansieht ist alles irgendwie leichter.


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