bewiesen.

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Die Scheißer sitzen schon beim Frühstück als wir das Speisezelt betreten.

„Ich setze mich zu Anna, ok?", sagt sie.

„Okay", sage ich und lasse ihre Hand los. Ich gehe zwei Tische weiter und setze mich zu Dennis, denn dann kann ich sie sehen.

„Guten Morgen", sagt er und grinst wie ein Idiot.

„Bist du noch besoffen oder warum grinst du so dämlich?", frage ich.

„Du weißt, warum ich grinse", sagt er und nickt zu Hannah, „du hast wohl vergessen, dass das hier Zelte sind."

Fuck. Ich dachte, das hat niemand gehört. Wieder erinnere ich mich an ihr Kichern und ihr Seufzen. Ich sehe zu ihr. Sie streicht sich eine Locke hinter ihr Ohr. Fuck, ich liebe ihre Reaktion, wenn ich an ihrem Ohr knabbere. Dann drückt sie sich ganz leicht an mich und atmet tief ein.

Hannah sagt etwas und die kleine Anna lacht. Hannah strahlt. Verdammt, sie sieht schön aus. Sie sieht zu mir und lächelt verlegen. Ich könnte schwören, sie merkt, wenn ich sie ansehe. Ich grinse. Sie bekommt rote Wangen und sieht auf ihren Teller.

„Das war ja ganz schön heiß", sagt Dennis, „Wilma war total empört", er grinst.

„Wenn Wilma überhaupt wusste, was sie da hört", sage ich und er lacht laut. Ich sehe wieder zu Hannah. Sie beißt in ein Brot. Sie isst, sie isst. Sie isst!

„Sie isst", sage ich.

„Was?", fragt Dennis.

„Ich habe gesagt, sie isst", wiederhole ich und nicke zu Hannah. Dennis folgt meinem Blick.

„Ja, sie isst. Aber wie viel?", fragt er.

„Gestern hat sie bestimmt vier Würste gegessen. Und Brot", sage ich und setze mich aufrecht. Ich bin richtig stolz.

„Wirklich?", sagt Dennis, „das ist richtig gut!" Ja. Das ist richtig gut. Ich sehe, wie sie nochmal abbeißt. Sie isst langsam und kaut viel. Aber verdammt, sie isst! Ich mache noch einen grünen Strich auf meine Liste. Das ist die zweite Mahlzeit, die sie isst. Dafür hat sie sich den Strich verdient. Ja. Sie isst. Sie trinkt einen Schluck und hält den kleinen Paul davon ab, auf den Tisch zu klettern.

„Seht ihr? Sie isst!", höre ich ein Flüstern hinter mir. Ich drehe mich um. Valerie steht hinter uns und winkt Hannah zu.

„Ja, sie isst", sage ich glücklich. Sie legt mir die Hand auf die Schulter.

„Wir schaffen das", sagt sie und drückt leicht zu.

Ja, verdammt. Wir schaffen das. Zwei grüne Striche. Es ist nicht viel, aber es sind schon zwei. Valerie und Hannah spielen mit den Kindern. Ich sitze auf einer Bank und sehe ihnen zu. Ich zünde mir eine Zigarette an. Wieder muss irgendwer irgendwen fangen, aber das ist mir immer noch egal. Hannah lacht und rennt hinter einem kleinen Jungen her. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde mich von ihr fangen lassen. Ich würde sie festhalten, sie an mich drücken...

„Weißt du eigentlich, dass Rauchen tödlich ist?", höre ich Wilma hinter mir. What? Ich stütze meine Arme auf meine Oberschenkel und lasse den Rauch aus meiner Lunge. Sie setzt sich neben mich. Ich sehe sie nicht an.

„Und dazu ist es ein schlechtes Vorbild", sagt sie.

"Du musst es ja nicht nachmachen", sage ich.

Sie schnaubt: „Sind wir doch mal ehrlich. Du bist ja nicht umsonst hier. Du hast ja eine Straftat begangen. Und: Du trinkst, du rauchst, du fluchst. Von deinen nächtlichen Aktivitäten mal ganz abgesehen. Du bist generell ein schlechtes Vorbild!" Damn. Sie geht mir auf die Nerven.

„Welche nächtlichen Aktivitäten?", frage ich sie so unschuldig ich kann und ziehe wieder an meiner Zigarette. Sie wird rot.

„Du weißt schon", sagt sie und zupft an ihrer Weste.

„Nein. Ich weiß es wirklich nicht. Und wenn ich es nicht weiß, kann ich mein Verhalten nicht ändern", sage ich. Ich muss aufpassen, sonst brülle ich vor Lachen. Ich ziehe wieder an meiner Zigarette. Ein Glück, dass der Wind den Rauch genau in ihre Richtung bläst. Sie hustet gekünstelt.

„Na, du und Hannah. Ihr habt. Also. Naja. Und das ist eben ein schlechtes Vorbild", sagt sie.

„Hmm. Das tut mir leid. Ich verstehe wirklich nicht, was du sagen willst", sage ich und zucke mit den Schultern.

„Ach, du bist ein Arsch. Du kannst mich mal", sagt sie laut. Sie steht auf und zischt ab.

„Na, na, na wer wird denn da Fluchen?", schreie ich ihr hinterher und fahre mir mit der Hand durch die Haare. Ich brauche mein verdammtes Cap.

„Hannah?", schreie ich über die Wiese. Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir.

„Ich hole mein Cap!", und deute auf ihr Zelt. Sie lacht und nickt.

Mein Cap liegt auf ihrem Schlafsack. Ich hebe es auf und sehe etwas buntes unter ihrem Kissen. Was ist das? Ich blicke über meine Schulter, auf die Wiese. Die Luft ist rein. Ich möchte nur wissen, was es ist. Ich hebe das Kissen an. Es ist ein Notizbuch. Das geht mich nichts an. Es ist bunt. Sie hat es mit Fotos beklebt. Ich hebe es auf. Das geht mich nichts an. Es sind Fotos von schlanken, nein dünnen Frauen.

Ich drehe das Notizbuch. Auch auf der Rückseite kleben noch mehr Fotos von dünnen Frauen. What? Was zur Hölle ist das? Ich muss es aufmachen. Ich muss reinschauen. Das geht mich nichts an. Nur kurz. Das geht mich nichts an. Nur ein Blick. Ich halte den Atem an und öffne den Umschlag. Ich sehe eine geschwungene, kunstvoll verzierte Schrift. „Am stärksten ist, wer sich selbst in der Gewalt hat"

What? Fuck. Verdammt, denkt sie das? Darunter hat sie Lucius Annaeus Seneca geschrieben. Ich nehme an, dieser Mist stammt von ihm. Was für ein verdammter Freak. Ich blättere um. Nur noch eine Seite. Nur eine. Auf der Seite klebt wieder ein Foto von einer dünnen Frau. Sie hat mindestens 10 Kilo zu wenig. Ist das ihr Vorbild? Hannah ist doch dünner als die! Mein Herz schlägt schnell. Ich blicke nochmal über meine Schulter. Es ist niemand in der Nähe. Ich blättere um. Fuck. Was soll das? Auf jeder Seite sind Einträge. Ist das ein Tagebuch? Das geht mich nichts an. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren. Ich muss es schließen, es geht mich nichts an. Es geht mich nichts an, verdammt es geht mich nichts an.

MITTWOCH: 1 Semmel, 1 Banane, 1 Teller Nudeln, 1 großer Salat

Fuck. Schreibt sie auf, wie viel sie verdammt nochmal isst? Ich blättere weiter. Wie lange macht sie das schon? Es sind unzählige Seiten. Hier hat sie etwas rot gekennzeichnet. Der rote Kugelschreiber hat auf der nächsten Seite Abdrücke hinterlassen. Ich blättere zurück.

SAMSTAG: 1 Semmel, 5 Erdbeeren, 1 Joghurt, 2 Stück Pizza!!!!

Erdbeeren? Sie schreibt verdammte Erdbeeren auf? 2 Stück Pizza!!!! Die Ausrufezeichen sind dick und rot. Auf der nächsten Seite steht groß DIÄT. Das Wort ist rot. Rot. Rot. Rot. Dieses verdammte Rot. Fuck. Magersucht. Rot.

SAMSTAG: 1 Banane, 1 Bratwurst, 3 Scheiben Brot!!!!

SONNTAG: 1 Portion Gulasch, 1 Apfel,

Ich blättere weiter. Auf jeder Seite ist ein Eintrag. Montag. Dienstag. Mittwoch. Donnerstag. Freitag. Samstag. Sonntag. Montag. Auf jeder Seite sind Einträge.

DIENSTAG: 1 Yes-Törtchen!!!!, 1 Scheibe Brot

Yes-Törtchen? Valerie hatte Yes-Törtchen dabei! Fuck, es ist die aktuelle Woche.

MITTWOCH: 1 Portion Nudeln (Tomatensauce), 1 Apfel, ½ Scheibe Brot

Mittwoch. Gestern. Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen gekocht haben. Wie wenig sie gegessen hat. Das nennt sie eine Portion Nudeln? Wieso stehen die Bratwürste hier nicht drin? Die hat sie doch gegessen. Vielleicht hat sie sie nur noch nicht eingetragen. Fuck. Warum steht das Brot hier schon drin?

Ich wusste es. Verdammt. Es gibt keine grünen Striche. Es gibt verdammt nochmal nur rote Striche auf meiner beschissenen Liste. Ich klappe das Buch zu. Sie ist krank. Und das hier ist der Beweis.


hold me tight.Where stories live. Discover now