UNHEIMLICH.

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Inzwischen ist es dunkel. Die Nacht ist schwarz und kühl, das Feuer orange und heiß. Ich sitze auf meiner Bank und kuschle mich in eine der Decken, die Valerie für alle bereitgelegt hat.

Valerie setzt sich neben mich. „Möchtest du noch was essen?" Sie blickt mich mit ihren hellblauen Augen an. „Wir haben dir was übrig gelassen". Ich bin ihr dankbar, dass sie nicht fragt, weshalb ich nicht beim Abendessen war. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Mein Magen rebelliert gegen das wenige Essen. Er brennt. Doch das Brennen sagt mir, dass ich am Leben bin. Ich habe Angst, dass ich mich ohne das Brennen leer fühle. Und verlassen. Alleine. Das Brennen ist etwas, das ich kontrollieren kann. Es kann mir niemand wegnehmen. Es gehört nur mir und es tut mir gut.

„Danke, aber ich habe keinen Hunger". Sie legt ihre Hand auf meinen Oberarm. „Okay. Wenn du reden möchtest, dann bin ich für dich da." Tränen schießen mir in die Augen, doch ich versuche, sie zu unterdrücken. Es tut so gut, dass sie für mich da ist, doch vor den Kindern möchte ich stark sein. Ich sehe sie an. Ich bin vielleicht doch nicht ganz allein. „Danke. Das ist lieb von dir".

„Woooooooohhh heute gibt es Gruselgeschichten!" Dennis kommt auf uns zu und hebt seine wackelnden Arme in die Luft. „Ha! Ich bin schon gespannt, ob deine Geschichte wirklich sooo gruselig is." Valerie verdreht die Augen. „Ihr werdet sch-sch-schlott-ern vor Angst!" Dennis schlingt sich die Arme um die Brust als würde er frieren. Valerie steht auf und gibt ihm einen Klaps auf den Arm.

Die Kinder setzten sich ums Feuer. Die kleine Anna klettert auf meinen Schoß und ich wickle uns in die Decke. Pingu ist auch dabei, aber er muss sich bei den gruseligen Stellen die Ohren zuhalten. Das hat sie mir versprochen. Sie drückt ihren Kopf an mich. Sie ist so klein. Die meisten Kinder sitzen bei Dennis und Valerie. Ein paar sitzen bei Wilma und zwei kleine Mädchen sitzen bei Raphael.

Das eine Mädchen drückt sich an seinen Arm, aber er rührt sich nicht. Ich wette, sie sind heimlich in ihn verliebt. Wobei es ziemlich offensichtlich ist, so wie sie ihn anschmachten. In dem Alter ist man sich noch sicher, dass andere das, was man nicht ausspricht, auch nicht sehen können. Doch ich sehe es. Die Mädchen schaukeln mit den Beinchen, kichern und sehen ihn an. Und ich bin wie die kleinen Mädchen. Ich sehe ihn an und am liebsten würde ich mit den Beinen schaukeln.

In den letzten Stunden hat sich unser Verhältnis verändert. Geht es ihm um mich oder hat er ein schlechtes Gewissen, weil Tobi sein Bruder ist? Ob er überhaupt ein Gewissen hat? Ich kann mir alles besorgen, was ich will. Und das sehe ich ihm an. Er weiß, was er will. Und nimmt sich, was er will. Er weiß, was zu tun ist. Breitbeinig sitzt er vor dem Feuer und starrt hinein. Ob er jemals Angst verspürt hat? Er sieht aus wie ein Fels, hinter dem ich mich verstecken kann. Der alles Schlechte von mir fern hält. An dem alles abprallt, das mir schaden könnte. An den ich mich anlehnen könnte.

Er lehnt sich zurück und holt sein Handy aus der Hosentasche und tippt darauf rum. Ob er mir gerade schreibt? Mein Herz beschleunigt sich. Ich würde gerne nachsehen, doch ich habe mein Handy im Zelt gelassen. Sicher hat er mir geschrieben. Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her. Grinsend sieht er auf sein Display. Er schreibt mir also gerne. Mein schweres Herz wird leichter, der Schmerz lässt etwas nach. Er schreibt mir gerne. Ich muss zu meinem Handy, will wissen was er mir schreibt. Doch ich kann nicht weg. Die kleine Anna und Pingu sind ganz fest an mich gekuschelt und Dennis beginnt gleich mit seiner Geschichte.

Raphael hebt seinen Kopf ein Stück und ertappt mich dabei, wie ich ihn anstarre. Er legt den Kopf schief und grinst breit. Ich werde rot und hoffe, dass er das in der Dunkelheit nicht sehen kann. Er steckt sein Handy zurück in die Hosentasche. Um meinen Herzschlag zu beruhigen blicke ich auf die kleine Anna herab. „Gleich geht's los", flüstere ich ihr ins Ohr. Sie drückt Pingu und kichert.

„Vor nicht allzu langer Zeit gab es hier im Wald einen alten Mann." Dennis beugt sich nach vorne. „Er wohnte in einer kleinen Holzhütte, gar nicht weit von hier", er spricht langsam, seine Stimme ist dunkler als sonst. Ein paar Kinder kichern. Er sieht sie an und beugt sich näher zu ihnen. „Man sagt, er hat sich von rohem Fleisch ernährt." „IIIhhhhh", die Kinder kreischen.

„Die Leute im Dorf sagen, dass er zwei Mal mit der Axt auf den Holzboden geschlagen hat, bevor er die Tiere getötet hat." Tock Tock, er klopft mit den Knöcheln neben sich auf die Holzbank. Die Kinder kreischen noch lauter. „Es war immer das gleiche." Er verengt seine Augen zu Schlitzen „Tock Tock, dann die Schreie des Tieres." Er klopft wieder auf die Bank.

„Der Mann ist vor zwanzig Jahren gestorben. Aber man erzählt sich, das Schlagen der Axt könne man heute noch hören." Keines der Kinder bewegt sich. Wenn das Feuer nicht so laut knistern würde, könnte man eine Stecknadel auf den Boden fallen hören. Ich muss mir ein Kichern verkneifen.

Die kleine Anna drückt sich fest gegen mich. „Keine Angst", flüstere ich, „es ist nur eine Geschichte." Dennis lehnt sich lässig zurück. „Wir werden am Wochenende die Hütte suchen. Wer sich traut, kann mitkommen. Und wer weiß, vielleicht hören wir ihn ja?" Dennis spricht wieder mit seiner normalen Stimme. Tock, Tock, Valerie klopft auf die Bank. Ein paar Kinder kreischen, andere kichern und Dennis sieht zufrieden aus.

Nach ein paar schiefen Liedern von Wilma und beruhigenden Worten von Valerie bin ich froh, als Dennis verkündet „Schlafenszeit!" Ich will wissen, was Raphael mir geschrieben hat.

Hektisch suche ich nach meinem Handy. Ich habe Herzklopfen und zeichne den Stern. Tatsächlich. Ein Briefchen blinkt auf dem Display. Er hat mir geschrieben.

Bitte ignorier mich nicht. Ich würde es dir gerne erklären! Sie ist von Eve. Mein Herz sticht. Natürlich ist sie von Eve. Wieso sollte er mir schreiben? Ich weiß auch nicht, warum ich gedacht habe, die SMS wäre für mich. Ich habe mir gewünscht, dass sie für mich ist, und das ist gar nicht gut. Ich schalte das Handy aus. Genug für heute, ich muss endlich wieder klar denken und brauche dringend Schlaf.


hold me tight.Where stories live. Discover now