GEKÜSST.

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Ich erreiche die Bauwägen und zerre mir das nasse T-Shirt vom Körper. Schnell schlüpfe ich unter die Dusche. Das warme Wasser prasselt auf meine Haut. Es tut gut. Meine Muskeln entspannen sich etwas. Ich seife mich ein. Meinen dicken Bauch, die schwabbeligen Oberschenkel. Der Pfirsichduft meines Duschgels steigt mir in die Nase. Ich ekle mich vor meinem dicken Körper. Hoffentlich hat niemand gesehen, wie eklig ich aussehe.

Schnell wasche ich das Duschgel ab und trockne mich mit dem weichen Handtuch ab. Ich muss mich beeilen, denn heute Abend ist eine Party in dem anderen Camp und wir müssen bald los. Ich schlüpfe in meine Jeans und ein graues T-Shirt. Meine Haare lasse ich offen, damit sie mir in großen Wellen über die Schultern fallen. Ich schminke mich dezent, tusche meine Wimpern, trage Rouge auf und umrande meine Augen mit einem dünnen Lidstrich.

„Hannah, du siehst toll aus!" Valerie quiekt und deutet auf mich. „Danke". Dennis nickt und ich werde rot. „Komm, wir gehen voraus", sagt sie und hakt sich bei mir unter.

„Kennst du jemanden vom anderen Camp?" frage ich als wir losgehen. „Nee, aber es soll da ganz süße Betreuer geben, habe ich gehört", sie zwinkert mir zu. „Super" sage ich, denn ich möchte ihr die Vorfreude nicht nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, mich auf jemanden einzulassen. Dazu ist alles noch zu frisch. Obwohl mir Raphael einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich habe das Gefühl, dass er meine Wunden heilen könnte.

Bis zum Camp sind es gute zwanzig Minuten zu Fuß. Valerie erzählt von ihrer Ausbildung als Erzieherin, von ihrem Papagei, und von ihrer gemeinsamen Wohnung mit Dennis. Die Kinder hinter uns plappern und kichern. Ich spüre die Berührung am Rücken. Inzwischen ist sie mir vertraut. Sie ist wie ein sanftes kribbeln. Ich weiß, dass Raphael mich ansieht. Und ich freue mich darüber, obwohl mir das egal sein sollte. Er ist der Bruder meines Exfreundes. Das ist Tabu.

Das Kribbeln wird stärker, wärmer. Ich sehe über meine Schulter. Ganz hinten, am Ende unserer kichernden Horde schlendert er neben Wilma. Er ist mindestens einen Kopf größer als sie. Er trägt Chucks, Jeans, ein weißes T-Shirt und ein schwarzes Cap. Er hat die Hände in den Hosentaschen. Wilma sieht zu ihm auf, plappert und gestikuliert wild. Doch er sieht mich an. Sein Blick ist intensiv. Er wendet den Blick nicht ab, als ich ihn ansehe. Mein Herz schlägt schneller. Der Waldweg ist holprig. Ich sehe wieder nach vorne um nicht zu stolpern. Was ist das zwischen uns? Wieso finde ich ihn auf einmal so interessant?

Wir erreichen eine Lichtung, auf der mindestens genauso viele Zelte aufgestellt sind wie in unserem Camp. Zwei junge Männer kommen auf uns zu. Der eine ist klein, hat feuerrote Haare und eine blasse Haut. Der andere ist groß, sonnengebräunt, hat goldblondes Haar und dunkle Augen.

„Hey. Cool, dass ihr da seid. Ich bin Chris", sagt der große und gibt mir die Hand. Er hat einen festen Händedruck. „Ich bin Hannah". „Hannah... Wie schön." Die Pause nachdem er meinen Namen gesagt hat, ist etwas zu lang. Ich fühle mich unwohl. Er zwinkert und mustert mich. „Ich bin Raphael" knurrt Raphael hinter mir und stellt sich etwas zu nah neben mich. Chris antwortet mit einem abschätzigen Grinsen. „Alles klar", Chris grinst. Na sowas. Raphaels Reviergehabe irritiert mich. Aber es gefällt mir irgendwie. „Ich bin Daniel", sagt der rothaarige und gibt uns die Hand.

Die Betreuer haben eine Bar aufgebaut. Es gibt Limo für die Kinder, laute Musik und eine Tanzfläche.Ich stehe neben der Tanzfläche und beobachte die Kleinen. Es ist dunkel geworden. Die bunten Scheinwerfer lassen die kleinen Gesichter mal in grün, dann blau und wieder in rot leuchten.

„Möchtest du etwas trinken?" Chris taucht neben mir auf und hält mir einen Becher hin. „Danke" ich schenke ihm ein Lächeln und nehme den Becher. „Na dann, auf uns!" Er hebt seinen Becher in die Luft und wir stoßen an. Der Drink schmeckt nach Soda und Minze. „Bist du alleine hier?" fragt er und lehnt sich an die Bar. „Nein", sage ich. „Oh", er sieht zu Boden. „Ich bin mit 45 Kindern hier", ergänze ich. „Oh" sagt er wieder und sieht mich an. „Dann bist du nicht... Also dieser Typ von vorhin und du... ihr seid nicht?" „Zusammen? Nein." Sage ich schnell, zu schnell und das obwohl ihn das nichts angeht.

Seine Miene hellt sich auf. „Willst du tanzen?" er streckt mir seine Hand entgegen. Ich kann nicht tanzen. Bestimmt sehe ich total bescheuert aus dabei. „Ich weiß nicht" sage ich und werde rot. „Es ist doch nur zum Spaß", sagt er und nimmt meine Hand. „Komm!", schnell trinke ich meinen Becher aus und stelle ihn auf die Bar. Der letzte Schluck schmeckt scharf, ich bekomme eine Gänsehaut. Ehe ich mich versehe sind wir auf der Tanzfläche. Ich bewege mich zur Musik. Es ist leichter als gedacht. Vielleicht liegt es am Alkohol. Chris grinst. Er beugt sich zu mir. „Das sieht gut aus", flüstert er mir ins Ohr. Ich weiche einen Schritt zurück. Ich will seine Nähe nicht.

„Ich sehe mal nach Valerie", ich muss schreien, um die Musik zu übertönen. Ich bin froh, als ich von ihm weg bin. Ich kämpfe mich durch die tanzenden Kinder, als ich das warme Kribbeln am Rücken spüre. Ich bleibe stehen. Es wird stärker. Langsam drehe ich mich um. Da steht er. Ein paar Meter entfernt und sieht mich an. Das gedämpfte Licht lässt seine Augen dunkler wirken. Er kommt langsam auf mich zu. Mein Herz klopft schneller. Noch einen Schritt. Die Luft scheint sich elektrisch aufzuladen. Noch einen Schritt. Ich halte die Luft an. Noch einen Schritt. Diese Augen. Noch einen Schritt. Dieser Blick. Noch einen Schritt. Die Spannung ist unerträglich. Noch einen Schritt. Ich halte es nicht aus, weiche etwas zurück. Er steht vor mir, sieht mich an. „Hannah...", seine Stimme ist rau, er flüstert doch ich kann es hören. „Raphael...", ich mache noch einen Schritt rückwärts. Er folgt mir. Mein Rücken berührt die Wand. Noch weiter zurück kann ich nicht. Er stützt seine Hände neben meinen Kopf an die Wand. Sein Gesicht ist ganz nah an meinem. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut, sehe den goldenen Rand seiner dunklen Iris, rieche seinen Duft, rieche Haselnuss und Zitrone. Mein Körper kribbelt. Seine Lippen nähern sich meinen. „Hannah..." flüstert er an meinen Lippen. Ich seufze als seine Lippen meine berühren. Sie sind weich. Er ist sanft. „So lange..." haucht er in meinen Mund.


hold me tight.Where stories live. Discover now