recherchiert.

6.9K 557 46
                                    

Dennis hat auch kein besseres Internet. Die verdammten Handys laden die Seiten nicht. Ich habe eine unendliche Unruhe in mir. Ich muss es wissen. Ich muss wissen, auf was ich achten muss. Ich muss wissen, ob sie Magersüchtig ist. Ich kann nicht zusehen, dass sie sich das antut, dass sie nichts isst.

Seit Dennis das heute angesprochen hat ist meine Schutzmauer eingestürzt. Ich habe es verdrängt. Fuck, ich wollte es nicht wahrhaben. Doch er hat Recht.

„Ich check das", sage ich und ziehe mir den Helm über den Kopf.

„Wo fährst du hin?", fragt er.

„Nach Hause. Ich bin so schnell wie möglich wieder da", sage ich und starte meine Maschine.

Ich fahre über die Wiese, über den Waldweg und nach Hause. Ich muss es wissen. Ich fahre viel zu schnell. Ich biege auf die Hauptstraße. Jede verdammte Ampel ist rot, es dauert gefühlte Stunden, bis ich endlich Zuhause bin. Ich zerre mir den Helm vom Kopf und krame den Wohnungsschlüssel aus meiner Jeans. Ich öffne die Türe und mache mich auf die Suche nach meinem Tablet.

Ich gehe durch die Wohnung. Im Wohnzimmer ist es nicht. Nicht auf der Couch, nicht auf dem Tisch. Verdammt. Ich gehe ins Schlafzimmer. Auf dem Sessel ist es nicht. Ich schlage die Bettdecke zurück. Da ist es. Ich nehme es und hänge es an den Strom. Obwohl ich das Gefühl habe, dass mein Körper so unter Strom steht, dass eine Berührung von mir reichen würde, um es einzuschalten.

Ich atme tief durch. Beruhig dich, verdammt. Du bist ja wie ein kleines Kind. Ich schalte es ein. Mit zittrigen Fingern tippe ich Magersucht. Sofort erscheinen hunderte Ergebnisse. Ich überfliege sie. Klinik. Essstörung. Sucht. Ich tippe auf eins der ersten Ergebnisse und scanne mit meinen Augen den Artikel.

Überwiegend Mädchen, Hungern, bewusste Nahrungsverweigerung, starker Gewichtsverlust sind die Worte, die mir auffallen. Jedes dieser Worte ist wie ein Schlag. Hungern. Hungern bedeutet Schmerz, Qual. Bewusste Nahrungsverweigerung bedeutet, dass sie sich bewusst schadet. Dass sie bewusst Schmerzen hat. Starker Gewichtsverlust bedeutet, das, was ich sehe. Sie ist so dünn. So dünn. Ich klicke auf die nächste Seite. Wikipedia.

Anorexioa Nervosa. Fuck. Wie das klingt. Das Wort hat so viele harte Buchstaben. Es klingt hart, gefährlich, wie ein Feind. Wie ein Eindringling. Anorexia Nervosa. Psychische Störung. Untergewicht. Herzversagen. Ich gehe zurück zu den Ergebnissen. Ich tippe auf Bilder. Mir wird schlecht. Ich sehe Frauen aus Haut und Knochen. Überall stehen die Knochen aus dem Körper. Man sieht jede einzelne Rippe. Die Gesichter sind nur noch Totenschädel. Die Haut ist dünn. Meine Hände zittern. Das sind verdammte Leichen. Ich schließe die Bilder. Ich ertrage das nicht.

Ich klicke auf die Website einer Klinik. Anzeichen. Symptome. Der Betroffene findet sich zu dick. Das kann ich nicht beurteilen.

Angst vor Gewichtszuname. Ich weiß es nicht.

Abnahme von mehr als 6 kg in den letzten 3 Monaten. Ich weiß es nicht.

Kreislaufprobleme. Ich weiß es nicht. Was soll mir diese Liste bringen? Ich muss an meine eigene, klägliche Liste denken. Ich lese weiter.

Auslassen von Mahlzeiten. Scheiße. Ein Strich. Winzige Portionen. Ein Strich. Hin und her schieben des Essens auf dem Teller. Shit. Meine Liste bekommt immer mehr Striche. Bekocht andere, isst nicht mit. Ja, das ist irgendwie auch ein Strich. Gereiztheit. Ja, sie ist gereizt. Sie hat Wilma und mich angeblafft. Das ist ein Strich, oder? Ich weiß es verdammt nochmal nicht. Und jetzt? Was, wenn sie wirklich krank ist? Was soll ich dann machen? Ich habe keine Geduld, mir das alles durchzulesen. Das ist so viel Text und ich will nur wissen, was jetzt zu tun ist.

Ich klicke weiter und finde eine kostenlose Hotline. Ich tippe die Nummer in mein Handy und warte. Es klingelt in der Leitung. „Hallo?", eine angenehme Frauenstimme ist am anderen Ende der Leitung. Ich habe gar nicht gehört, dass sie das Gespräch bereits angenommen hat.

„Hallo", sage ich.

„Was kann ich für Sie tun?", fragt sie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wollte nicht anrufen. Doch jetzt muss ich etwas sagen. Ich habe so viele Fragen. Gerade eben war ich noch im Camp und jetzt telefoniere ich mit einer verdammten Hotline. Seit Dennis das Thema angesprochen hat, bin ich wie ferngesteuert.

„Hallo?", fragt sie wieder. Die sanfte Stimme der Frau holt mich zurück in die Realität.

„Ich...Ich, ach verdammt", sage ich und fahre mir durch die Haare. Ich stehe auf. „Verdammt, entschuldigen Sie bitte.", sage ich.

„Schon gut. Sie können mir gerne sagen, weswegen Sie anrufen.", sagt sie. Sie klingt geduldig und verständnisvoll.

„Ich glaube, meine Freundin ist magersüchtig", platzt es aus mir heraus. Fuck, wie sich das anhört, wenn ich es laut ausspreche. Freundin. Magersüchtig.

„Verstehe", sagt sie „das ist ein schlimmer Verdacht und ich kann mir vorstellen, dass Sie das verunsichert. Es ist gut, dass Sie sich an uns wenden." Ich fühle mich, als würde ich neben mir stehen. In was bin ich da rein geraten.

„Wie kommen Sie zu dem Verdacht?", fragt sie.

„Ich...ich weiß nicht genau", sage ich, „sie ist ein Mädchen, sie ist dünn, sie isst wenig und sie lügt wenn es darum geht, ob sie schon etwas gegessen hat", mir ist egal, wie lächerlich das klingt. Ich zähle die Punkte auf meiner Liste auf. Ich höre das Klappern einer Tastatur. Sie schreibt mit? Nein. Nein, ich will nicht, dass es aufgeschrieben wird. Schwarz auf Weiß.

„Wie alt sind Sie?", frag sie mich. „Dreiundzwanzig", sage ich.

„Wie alt ist ihre Freundin?" Ich überlege kurz. „Zwanzig", sage ich schließlich.

„Wissen Sie das aktuelle Gewicht ihrer Freundin? Und die Größe?", fragt sie weiter.

„Nein", sage ich. Was soll das hier? Woher soll ich das denn wissen?

„Eine Ferndiagnose ist mir nicht möglich, wie Sie sich sicher vorstellen können. Aber ich möchte Sie bitten, dass Sie Ihren Verdacht ansprechen. Seien Sie ehrlich, einfühlsam. Sagen Sie, dass Sie sich Sorgen machen, dass Sie für sie da sind." Ich schnaube verächtlich. Als wäre das so einfach. Sie kennt unsere Beziehung nicht. Sie ist die Exfreundin meines Bruders. Sie ist betrogen worden. Von ihm, von ihrer besten Freundin. Sie hat niemanden mehr und ich kenne sie so gut wie nicht.

„Wir sind noch nicht sehr lange zusammen", sage ich ehrlich.

„Sagen Sie ihr, was Sie fühlen", sagt die Dame. „Bieten Sie ihr Ihre Hilfe an. Den Rest muss sie alleine machen", sagt sie weiter. Alleine machen? Mir wird schlecht.

„Danke", sage ich.

„Gern geschehen", sagt sie und ich lege auf. Das hat mir nichts gebracht. Ich weiß genauso viel wie vorher. Und, dass ich sie ansprechen soll. Aber ich habe keine verdammte Ahnung, wie ich das machen soll. Ich setze mich zurück aufs Bett und lese weiter. Sucht. Tod. Es ist ernst, mir wird schlecht. Es klingelt an der Türe und ich zucke zusammen.

Fuck, wer zur Hölle ist das? Ich stehe auf, lege das Tablett auf die Matratze. Ich gehe durch den Flur. Dennis. Wahrscheinlich ist es Dennis. Ich entspanne mich etwas. Ich kann jetzt seine Unterstützung gebrauchen. Ich muss meine Gedanken ordnen.

„Hey, danke dass du kommst", sage ich als ich die Türe öffne.

„Ich wusste, dass du deine Meinung änderst. Ich habe dein Motorrad unten gesehen", flötet Sarah.


hold me tight.Where stories live. Discover now