Kapitel 37 - Kristallene Blumen

26.3K 2.2K 181
                                    

Das Geräusch der Wohnungstür holt mich aus einem ungemütlichen Schlaf. Ich öffne die Augen und sehe auf den Stoff der Couch, auf der ich liege. Es ist auf jeden Fall unbequem, zu unbequem. Mein Rücken tut jetzt schon weh. Ich lausche den Geräuschen, um ausfindig zu machen, ob Harry jetzt wieder kommt oder ich diesmal wirklich abgestochen werde, weil ein Mörder mich besucht.

Ich höre Gerumpel und Schritte. Ich bin mir sicher, dass es mehrere Personen sind, höchstens drei. Sofort pocht mein Herz bis zum Hals. Einbrecher. Mörder. Vergewaltiger. Ich wusste es.

Plötzlich ein Knall und ein männlicher Stöhner ertönt. „Ohh, Harry pass doch auf", nuschelt jemand, der wohl mehr als betrunken ist.

„Halt die Fresse!", höre ich Harry leise zischen. Er klingt nüchtern. „Du musst ja nicht so scheiße schwer sein!"

Erleichterung macht sich breit. Keine Mörder, keine Einbrecher, nur Harry und ein anscheinend Betrunkener. Jedoch komme ich gar nicht erst auf die Idee mich umzudrehen. Ich warte nur drauf, bis ich weiterschlafen kann, denn ich bin mir sicher, dass es nach drei Uhr ist.

Ich höre, wie sich jemand auf die Couch mir quer gegenüber fallen lässt. Daraufhin atmet Harry durch. „Wehe du bewegst dich auch nur ein Zentimeter vom Fleck", sagt Harry leise. „Und halt gefälligst dein besoffenes Maul." Er geht um den Tisch herum und setzt sich in den Sessel gegenüber meiner Couch.

„Woah", sagt wieder der Betrunkene leise. „Hab ich Halluzinationen oder ..." Ich spüre wie sich der Stoff meiner Couch an meinen Füßen senkt und dann höre ich wie Harry schon aufsteht und ihn wieder auf die andere Couch zieht.

„Scheiße, was habe ich gerade gesagt?", flucht er leise. „Du kannst draußen pennen, wenn du dich nicht beherrschen kannst."

„Ist ja gut, man", säuselt der andere. „Sei nicht so ein Wichser. Sie schläft, einmal anpacken geht doch voll klar."

„Soll ich dich verdammt nochmal von dem scheiß Balkon schupsen?"

„Tz", macht der andere. „Flipp nicht so aus, ich bin betrunken wie zehn Russen. Gib mir drei Sekunden und ich bin weg."

„Das hoffe ich für dich", murrt Harry und ich höre, wie er sich wieder in den Sessel setzt.

Es herrscht Stille im Raum und ich schließe ebenfalls wieder die Augen. Ich bete heimlich zu Gott, dass mich mitten in der Nacht kein Betrunkener anfasst.


Ein schnüffelndes Geräusch lässt mich wieder aufwachen. Schnell schrecke ich hoch und blicke direkt auf Diabo, der vor der Couch sitzt und mich verwirrt ansieht. Kurz weiß ich nicht, was passiert ist, doch dann erinnere ich mich wieder. Ich habe die Nacht in Harrys Wohnung verbracht.

Ich sehe mich im Wohnzimmer um, es ist bereits hell. Doch ich würde es nicht später als acht Uhr schätzen, da die Sonne noch nicht ganz aufgegangen ist. Jalousien hat Harry anscheinend nicht, weshalb ich direkt auf eine fremde Person blicken kann, die wie ein Tier auf dem Rücken liegt, alle Viere von sich gestreckt und laut schnarcht. Seine Beine baumeln von der Couch, weil er zu groß ist. Das ist wohl der Betrunkene von letzte Nacht. Ich versuche mich zu erinnern, ob er einer von den Kerlen ist, die dabei waren, als mir Wodka über den Kopf geschüttet wurde, doch ich erinnere mich nicht an sein Gesicht. Er ist mir definitiv unbekannt.

Mein Blick fällt auf den Sessel rechts gegenüber von mir. Harry sitzt dort mit geschlossenen Augen, er stützt seinen Kopf in seiner Hand ab, seine Stirn angespannt. Da seine Brust sich zu seinem Atem gleichmäßig bewegt, bin ich mir sicher, dass er schläft. Wieso schläft er nicht in seinem Bett? Ich könnte mir niemals vorstellen so im Sitzen zu schlafen und das zwei Nächte hintereinander.

Kurz sehe ich den kleinen, jüngeren Harry auf diesem Sessel sitzen. Mit seinen Wunden im Gesicht und den durcheinander geratenen Haaren, ist er das perfekte Abbild von damals, kurz bevor er verschwunden ist. Ich kann immer noch nicht fassen, dass er tatsächlich wieder hier ist. Und vor allem kann ich nicht fassen, dass ich gerade bei ihm bin. Nur zu gern wüsste ich, wo er in den letzten zehn Jahren war und was mit ihm passiert ist, doch genauso schweigend wie er hier sitzt, verhält er sich im übertragenen Sinne mir gegenüber, was die Offenbarung irgendwelcher privaten Dinge angeht. Dieser Junge ist ein reines Rätsel.

Ich schwinge meine Beine von der Couch und strecke mich leise, weil mein Rücken an solche unbequemen Liegplätze nicht gewöhnt ist. Zuhause habe ich ein super weiches Bett, das komplette Gegenteil von dieser Couch. Diabo stupst mich mit seiner Nase an und scheint irgendetwas zu wollen. Wahrscheinich will er raus. Oder etwas zu fressen? Ich hatte nie einen Hund, ich kann deren Sprache nicht deuten.

Deswegen stehe ich so leise wie nur möglich auf und will gerade ein Regal öffnen, um etwas zu essen zu suchen, als: „Nicht da."

Erschrocken drehe ich mich zu Harry um, der mich noch halb schlafend ansieht, sein Kopf hat er immer noch in seine Hand gestützt. „Harry!", flüstere ich. „Musst du mich immer so erschrecken?"

Tief ein und aus atmend reibt er sich kurz über ein Auge und richtet sich dann mehr in dem Sessel auf. „Sein Essen steht neben der Couch", sagt er mit kratziger Stimme. Er klingt noch so verschlafen. Ich wette, er hat nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen, doch trotzdem wirkt er noch viel zu attraktiv dafür, dass er gerade aufgewacht ist. „Aber er muss raus, deswegen kannst du dir das sparen", fügt Harry noch hinzu.

Nickend sehe ich zu Diabo, der zwischen Harry und mir hin und her sieht. „Und, ähm ... Wirst du mit ihm rausgehen?"

„Das würde wahrscheinlich helfen oder?" Jetzt ist er aus seiner Trance aufgewacht. Er steht auf und lässt seinen Nacken zwei Mal knacken, was mich schmerzvoll das Gesicht verziehen lässt. Mit noch müden Augen nimmt er seine Jacke vom Sessel und zieht sie sich über. Er pfeift kurz zu Diabo, während er in den Flur geht, woraufhin er ihm sofort aufgeregt folgt.

Schnell tapse ich ihm hinterher. „Darf ich, ähm, vielleicht mitkommen? Ich würde auch gerne mal an die frische Luft und hier liegt noch so ein komischer Mann und -''

„Komm einfach mit", unterbricht Harry mich genervt und geht aus der Haustür.

Hurtig schnappe ich mir noch meine Jacke, schließe die Tür und folge ihm das Treppenhaus runter. „Willst du diesen Kerl einfach allein da liegen lassen? Was wenn er aufwacht?"

Wir verlassen das Haus und sofort kommt mir eine eisige Kälte entgegen. Über Nacht hat es gefroren, was die Blumen und Blätter mit leicht kristallenen Rändern schmückt. Sogar in einer Gegend wie hier, sieht es schön aus. Wir laufen über einen Bürgersteig, keine Menschenseele ist hier, was mich erleichtert. Ich sehe wahrscheinlich schrecklich aus und ich bin mir sicher, dass die Leute hier, nicht freundlich Guten Morgen sagen.

„Er ist besoffen", sagt Harry, während ich versuche einen Sicherheitsabstand von einem Meter einzuhalten. „Er würde nicht mal merken, dass wir weg sind."

„Verstehe", sage ich und sehe auf den Boden unter uns. Wir laufen in Richtung eines Parks, der mit gefallenen Blättern geschmückt ist. „Schläfst du eigentlich immer im Sitzen?" Ich lache etwas, um die Stimmung zu lockern.

„Nein", antwortet er nur und sieht zu Diabo, der vor uns durch die Blätter rennt. Kaum zu glauben, dass dieser Hund mich damals so angeknurrt hat und ich eine riesige Angst vor ihm hatte.

Wieder nicke ich nur mit geschürzten Lippen. „Okay ..." Er ist wieder so kalt. „Anscheinend war dein Abend gut, wenn er so betrunken war."

„Jap."

Ich seufze. „Harry ... Sei nicht wieder so."

Er sieht mich an. „Wie?"

„So ... distanziert. Wir können uns doch ganz normal unterhalten, wie zwei ganz normale Menschen. Es gibt keinen Grund jetzt abweisend zu mir zu sein."

Jetzt sieht er wieder nach vorne, seine Miene angespannt und nachdenklich. So, wie es in letzter Zeit oftmals der Fall ist. „Okay, du willst wissen, wie mein Abend war? Er war beschissen."


Remember His StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt