Kapitel 49 - Wie eine Schlange

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Meine Mutter legt ihre Hand auf meine Schulter. „Genau. Sie weiß jetzt, dass er sie nur auf die falsche Bahn bringen würde, deswegen haben ich die Sache sofort mit ihr geklärt."

Esther nickt wieder und sieht von meiner Mutter zu mir. „Das ist gut. Ich liebe meine Sohn zwar, doch er war schon immer bekannt dafür, schlecht mit seinen Mitmenschen umzugehen." Sie seufzt. „Ich weiß nicht, was mit ihm nur falsch gelaufen ist. Ich wünschte, wir könnten ihn wenigstens nach zehn Jahren weidersehen."

„Er fehlt uns wirklich sehr", beteuert Joel und legt seine Hand traurig auf Esthers Schulter, die ebenfalls traurig guckt und sich an ihn lehnt. „Doch wer verübelt es uns? Wir wissen nicht, wo er lebt, was er tut. Er könnte auf der Straße leben und wir hätten keine Chance, ihm zu helfen."

Ich muss mir einen verachtenden Blick verkneifen. Was reden sie da nur? Sie tun so, als würden sie sich um Harry sorgen. Es widert mich an. Ich glaube ihnen kein Wort, nicht mal eine Sekunde kaufe ich ihnen dieses kleine Schauspiel ab. In diesem Moment ist es wahrscheinlich besser, dass ich nicht genau weiß, was sie damals mit ihm und Dale gemacht haben, denn dann würde ich ihnen die Augen auskratzen. Zumindest in meiner Vorstellung.

„Wir machen uns wirklich große Sorgen um ihn", spricht Esther weiter.

„Das kann ich mir vorstellen", lüge ich und versuche ihnen zu vermitteln, ich habe Mitleid mit ihnen. „Es muss schlimm sein, den eigenen Sohn, den man über alles liebt, zehn Jahre lang nicht zu sehen."

Esther nickt wieder traurig. „Ja ... Er ist damals einfach verschwunden, weißt du? Ohne sich zu verabschieden."

„Du musst wissen, dass Esther und Joel extra wegen ihm wieder nach Cardiff gezogen sind", erklärt meine Mutter mir. „Sie wollen ihn unbedingt wiedersehen."

Ich beiße mir auf die Zunge, damit ich nichts sage. Wenn sie wirklich denken, ich sage ihnen irgendetwas über Harry, dann haben sie sich geschnitten. Niemals würde ich ihn verraten.

„Honor", seufzt Joel und streicht über Esthers Arm, während sie noch immer traurig an ihm lehnt. „Weißt du vielleicht, wo wir ihn finden könnten? Wir wissen zwar, dass ihr keinen Kontakt habt, doch uns ist jede Hilfe recht."

Sofort schüttle ich den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich weiß nicht, wo er wohnt."

„Wirklich?", schnieft Esther. Gott, weint sie? „Nicht mal irgendeine Richtung? Bitte tu uns den Gefallen. Er ist unser Fleisch und Blut."

„Ich weiß nichts", erwidere ich erneut und kneife mir gleichzeitig in den Schenkel, weil ich so nervös bin. „I-Ich – Er hat mir nie sagen wollen, wo er lebt oder was er tut. Wir mochten uns sowieso nie ... Er war immer gemein."

„Oh", macht Esther. „Ist er schlecht mit dir umgegangen?"

Ich nicke und versuche traurig zu wirken. „Ja ... Er hat mich ständig beschimpft. Meine Mutter hatte Recht, als sie entschieden hat, ihn zu feuern. Er ist ein schlechter Mensch."

Jetzt richtet sich Esther wieder auf. Ihre Trauer ist ihr kaum noch anzusehen. „Er ist der Teufel ... nicht wahr?", fragt sie mich und ein verrückter Blitz erscheint in ihren hellen Augen.

Ein Schauer überkommt mich. Sie wirkt so wie eine Irre, wie sie mich so ansieht. So eindringlich und genau. „Ja", bestätige ich eingeschüchtert ihre Aussage und nicke. „E-Er ist der Teufel."

Wie verrückt kann ein Mensch nur auf andere wirken? Wie kann meine Mutter mit diesen Leuten befreundet sein? Jeder merkt sofort, dass etwas nicht mit ihnen stimmt. Nur Gleichgesinnte würden sich mit ihnen abgeben, doch das sind meine Eltern absolut nicht. Oder?

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