Kapitel 52 - Kurzer, sanfter Schlaf

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Ich muss schwer schlucken. Auch wenn ich angenommen hatte, dass Harry wahrscheinlich insgeheim kein Superheld ist, der Katzen von Bäumen rettet oder alten Frauen über die Straße hilft, schockt es mich doch, dass er wirklich Dinge tut, die anderen Menschen Probleme bereiten. Doch darauf konzentriere ich mich momentan nicht. Ich kenne keine Hintergründe und erst Recht nicht, wieso Harry das alles wirklich tut. Im Moment steht das Problem mit seinen Eltern im Vordergrund und nicht seine außergewöhnlichen Freizeitaktivitäten.

Ich nicke nur, worauf Harry mich argwöhnisch ansieht. „Du nimmst das einfach hin?", fragt er.

„Wieso?", frage ich verwirrt. „Was soll ich denn tun?"

Er zuckt mit einer Schulter. „Ich hatte erwartet, du würdest – keine Ahnung – irgendwelche scheiß Fragen stellen. Mir sagen, dass das scheiße ist, was ich tue und so'n Dreck."

„Es würde doch nichts ändern, wenn ich das machen würde oder?"

„Nein, würde es nicht."

„Also ..."

Wieder herrscht Stille. Gott, es ist so seltsam. Bei Harry weiß man nie, wo man dran ist. Ich habe das Gefühl, ich könnte gerade mit ihm über so viele Dinge reden, weil er anscheinend heute sehr offen ist, doch gleichzeitig habe ich solche Angst vor seinen Reaktionen. Er ist einfach nicht einzuschätzen. Ich weiß nie, was er als nächstes tut.

„Deine Eltern wissen nicht, dass du noch bei meinem Grandpa im Hotel arbeitest", sage ich irgendwann, weil er das noch wissen sollte.

Er sieht mich an.

„Meine Mutter wollte, dass er dich feuert, aber er hat es nicht getan, doch das weiß sie nicht. Und deine Eltern anscheinend auch nicht. Ich habe dich nicht verraten."

Harry nickt verständlich und ich sehe, wie er tiefer ein und aus atmet.

Ich verziehe bedrückt den Mund, weil ich einfach das Gefühl habe, dass ihn das belastet. Auch wenn er es vielleicht nicht zeigen mag. „Harry", sage ich deshalb leise. „I-Ich weiß nicht, was deine Eltern dir angetan haben, aber ... Wenn du einfach nur über irgendetwas reden möchtest ... Es kann alles sein ... Dann kannst du das tun. Du musst das nicht in dich hineinfressen."

Als wäre kein Gefühl in ihm, starrt er auf den kleinen Tisch vor ihm. Nach einer kurzen Ruhepause, sagt er: „Ich brauche niemanden, der mir sagt, dass es okay ist, darüber zu reden wie abgefuckt ich bin. Das weiß ich selbst am besten."

Unglücklich schüttle ich den Kopf. „Ich werde dir so etwas nicht sagen, wenn du es nicht hören willst. Ich will nur –''

„Du willst nur was?", unterbricht er mich zorniger, was mich sofort zum Schweigen bringt. „Was willst du, Honor? Hier sitzen, trauern darüber, wie absolut krank meine Eltern sind und wie grauenvoll die Zeit damals war? Worüber willst du trauern? Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was passiert ist, also tu nicht so, als könntest du mich verstehen, verstanden? Es macht krank, dass du denkst, du könntest irgendetwas besser machen, denn das kannst du nicht." Aggressiv verzieht sich sein Gesicht und er sieht zum Fenster. Seine Faust ist geballt. „Du kannst mich nicht retten, Honor."

Für ein paar Sekunden, sehe ich ihn einfach nur an. Wie er dort sitzt, aggressiv, aufgebracht und ... verzweifelt. Die Gefühle in diesem Gespräch ändern sich von Moment zu Moment und es fällt mir immer schwerer, damit umzugehen, doch schließlich tue ich das, was ich denke, was andere Menschen brauchen, wenn sie so sind, wie Harry. Ich stehe auf und gehe zu ihm.

Sein Kopf schellt zu mir und er beobachtet skeptisch jede Bewegung von mir. Wie ich mich nah neben ihn setze. Ich sehe ihn nicht an, während ich zu ihm ranrücke und mich gegen die Couchwand lehne. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, weil ich nicht weiß, ob er mich gleich von der Couch schupsen wird oder nicht, doch ich ignoriere es. Ich ziehe meine Knie zur Brust und mache mich klein.

Langsam lege ich meinen Kopf auf seine Schulter und komme ihm so nah, wie ich kann.

Ich spüre, wie er sich anspannt, doch er tut nichts. Er sitzt einfach da und lässt es zu.

Beruhigt schließe ich meine Augen und erlaube meinem Körper, sich zu entspannen. Ich atme seinen Duft ein, auch wenn er ein wenig nach Zigaretten und Alkohol riecht. Ich sinke mehr auf seiner Schulter ein. Zwar versuche ich dadurch, ihn zu beruhigen, doch gleichzeitig ist es ein guter Trost für mein eigenes Herz. Einen Moment, wie diesen, habe ich lange benötigt.

„Warum tust du das?", fragt er mit rauer Stimme nach einer Weile.

Meine Augen sind weiterhin geschlossen. „Weil ich das Gefühl habe, dass ich es müsste", zitiere ich seine Worte, die er gesagt hat, nachdem er mich vor meinem Vater beschützt hat.

Er sagt nichts.

Wir sitzen einfach nur auf der Couch und leben in der Stille, in der Dunkelheit um uns herum. Harry ist immer noch ein Mysterium und ich weiß nicht, wie er fühlt und was denkt, doch ich weiß, dass er auch nur ein Mensch ist, wie jeder andere. Er mag behaupten, er sei der Teufel, doch er ist es nicht. Er ist mein Mensch, der Momente wie diese braucht. Jeder will getröstet werden, jeder will hören, dass es okay ist und jeder will hören, dass es jemanden gibt, der für ihn da ist, egal was auch passieren mag. Ich sage es ihm zwar nicht, doch ich kann es ihm zeigen. Ich weiß nicht, wieso er mich auf diese gewisse Art und Weise immer wieder zu sich anzieht, doch es ist richtig so. Es hat sich selten etwas so richtig angefühlt.

Das Geräusch der Tür, holt mich aus einem kurzen, sanften Schlaf. Ich bin tatsächlich auf Harrys Schulter eingeschlafen. Ich öffne die Augen und sehe Diabo, der in den Flur sieht, wo Dale langelaufen kommt.

Er kommt ins Wohnzimmer und scheint erst irritiert zu sein, wie er uns vorfindet, doch dann versteht er. Als hätte er erwartet, uns so zu sehen.

Doch ich bin viel zu schlaftrunken, um irgendwie zu reagieren. Es ist bestimmt schon vier Uhr morgens. Ich war selten so lange oder spät wach. Ich schaffe es nicht mal meinen Kopf von Harrys Schulter zu nehmen und weil er sich nicht dagegen wehrt, belasse ich es dabei.

„Ich werde sie nach Hause bringen", sagt Dale zu Harry.

Anscheinend war Harry die ganze Zeit wach, denn er sagt ganz normal: „Ja, solltest du."

Nur blinzelnd bekomme ich mit, wie Dale auf mich zukommt und mir sanft seine Hand auf die Schulter legt. „Honor", redet er leise auf mich ein. „Komm, ich fahre dich nach Hause, okay?"

Ich nehme müde meinen Kopf von Harrys Schulter und reibe mir über das Auge, während ich nicke. Am liebsten würde ich einfach weiterschlafen, doch morgen muss ich arbeiten und meine Eltern dürfen auch nichts mitbekommen.

Dale hilft mir hoch und es fällt mir schwer zu stehen, weil ich so erschöpft bin, deswegen hält er mich. „Du bist lange Nächte anscheinend nicht gewöhnt", sagt er amüsiert. Dann sieht er zu Harry, der uns einfach nur ansieht. „Wahrscheinlich willst du nicht, dass ich danach nochmal zu dir komme, richtig?"

„Vergiss es", raunt Harry und steht auf. Er geht zur Balkontür und nimmt sich eine Zigarette vom Fensterbrett, bevor er sie öffnet.

„Alles klar", murmelt Dale und sieht zu mir, während ich noch immer halb schlafend in seinem Arm liege. „Dann fahren wir. Hey, Augen auf, sonst fällst du mir die Treppen runter."

Das Einzige, das ich noch höre, ist die Balkontür, die laut zugeschmissen wird und dann finde ich mich auch schon in meinem Bett wieder.

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