Kapitel 64 - Geschundenes Blut

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Mein Körper erstarrt. Was hat er gesagt?

„Es würde keinen Sinn machen, jetzt zu sagen, dass ich es nicht will", gibt er zu. „Es hatte schon keinen Sinn mehr, seit ich dich damals in der Apotheke gesehen habe."

Mein Herz pocht mir bis zum Hals und am liebsten würde ich meinen Kopf vor lauter Hitze aus dem Fenster strecken, doch ich versuche es zu ignorieren. Er hat mich also damals schon erkannt gehabt. Und er will, dass ich bei ihm bleibe. Im übertragenen Sinne natürlich. Egal, wie absurd es sein mag, kann ich mir kein Grinsen unterdrücken. Ich muss mein Gesicht von ihm abwenden und mir auf die Lippe beißen, um ihn nicht zu zeigen, wie zufrieden mich diese Antwort stellt.

„Aber das bedeutet nichts", sagt er und meine Mundwinkel senken sich wieder sofort. „Nur weil ich will, dass du ... bleibst, bedeutet das nicht, dass – keine Ahnung. Es geht einfach nicht. Das wäre nicht richtig."

Sofort ist meine Laune wieder auf dem Tiefpunkt. So viele schwankenden Stimmungen in dieser Konversation und doch ende ich wieder traurig. Wieso sagt er immer erst solche Dinge und zerstört sie am Ende, als hätten sie nie existiert?

Ich sehe ihn nicht an, weil er sofort erkennen würde, wie sehr mich das trifft.

Denn jetzt bin ich wieder die Heulsuse, die mit der Situation nicht umgehen kann. Ich versuche nicht zu weinen, das versuche ich wirklich, doch es tut einfach weh, zu hören, dass er das alles nicht will. Während ich doch nichts anderes will. Gott, wieso schmerzt es so sehr? Harry und ich hatten doch nie wirklich etwas, wieso fühlt es sich so grausam an?

Ein leises Schniefen kann ich mir nicht unterdrücken, während ich am Horizont schon die Sonne untergehen sehe.

„Honor." Harrys Stimme klingt sanft. Ungewöhnlich sanft. „Es ..."

Für einen kurzen Moment denke ich wirklich, er sagt, dass es ihm Leid tut.

Er atmet durch. „Scheiße", murmelt er leise. „Ich kann es dir nicht erklären."

„Kannst du nicht oder willst du nicht?", frage ich ihn mit schwacher Stimme, als ich mir unauffällig eine Träne vom Augenwinkel wische. Ich kann ihn noch immer nicht ansehen.

„Ich will nur, dass du ... Du sollst mit dieser Scheiße nichts zu tun haben."

„Aber das habe ich doch schon längst ... Ich stecke mittendrin, Harry."

„Ja. Und das muss aufhören."

„Wieso? Du warst ständig allein, wieso willst du immer noch allein bleiben?"

Sein Griff um das Lenkrad wird wieder stärker. Erneut ist er angespannt. „Das hat nichts damit zu tun, ob ich allein sein möchte oder nicht. Es geht hier nicht um irgendeine scheiß Beziehungskacke, klar?"

Ich zucke vor seiner harschen Ausdrucksweise zusammen und schweige. Jetzt sind wir also wieder hier angekommen. Bei der Wut.

Wieder flucht er leise und kramt etwas aus der Mittelkonsole hervor. Eine Zigarettenschachtel. Er schiebt sich Zigarette zwischen die Lippen, dann zündet er sie mit gereiztem Ausdruck an.

Ich beobachte ihn, während er das Fenster leicht öffnet und dann einen tiefen Zug nimmt.

Es herrscht quälende Stille. Das Auto wird von dem widerlichen Rauch zugequalmt und ich versuche, nicht zu viel von dem Rauch einzuatmen. Er nimmt also diesmal keinerlei Rücksicht, sondern raucht einfach in einem geschlossenen Raum. Während er doch eigentlich weiß, wie abstoßend ich es finde. Das sagt fast schon genug.

Ich sehe traurig auf meinen Schoß indem meine Finger liegen. Jetzt will ich nicht mehr in diesem Auto sitzen.

„Es tut mir leid, dass du niemals ehrlich geliebt wurdest", traue ich mich leise zu sagen. „Und dass es dich so gemacht hat ... wie du jetzt bist."

Er schweigt. Nimmt wieder einen Zug.

„Aber ..." Mir kommen wieder die Tränen. „Sag mir nicht, du willst, dass ich bleibe und tu dann im nächsten Moment so, als würdest du es nicht wollen. Ich weiß nicht, warum es mir so schrecklich weh tut, aber das tut es ... Das tut es wirklich. Also bitte ... Ich kann das nicht mehr, Harry."

Kurz ist er still. Kurz denke ich, ich verliere den Verstand, weil ich ihm so etwas sage. Und kurz denke ich, ich bin verrückt, weil mir plötzlich klar wird, dass egal was er tut oder sagt ... Ich ihn trotzdem nicht loslassen könnte.

„Es tut mir leid."

Mein Kopf schwenkt langsam zu ihm.

Er sieht ... traurig aus. „Bitte hör auf zu weinen."

Ich sehe ihn einfach nur an. Wie er hier sitzt. Mit Gefühlen. Sagt, es tut ihm leid und Bitte sagt. Er wirkt gerade echt. Er wirkt echt, real, ... schöner, denn je. Doch trotzdem tut es weh.

Plötzlich stoppt er den Motor und ich sehe nach vorne. Wir stehen an der Straße, etwas weiter weg von unserem Haus. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er diese Richtung angesteuert hat. Er hat also vor, mich Zuhause abzusetzen. Mich wirklich loszuwerden.

„Es gibt eine Erklärung für all das", sagt er wieder, sieht mich jedoch nicht an. Er lässt die leere Zigarette aus dem Fenster fallen. „Es gibt eine Erklärung für alles. Und du wirst all das erfahren, wenn es so sein soll. Wahrscheinlich erst in ein paar Jahren. Wenn du älter bist, vielleicht schon verheiratet und so einen Scheiß, aber ... Heute nicht."

Er lehnt sich zurück in den Sitz. Noch immer sieht er mich nicht an. „Und jetzt solltest du einfach gehen."

Ich schürze die Lippen und betrachte ihn niedergeschlagen, doch tue, was er sagt. Ich bin zu erschöpft, um noch länger Worte zu hören, die mich nur verletzen würden. Der Tag heute war eine reine Qual. Schlimmer kann es kaum noch werden, deswegen greife ich nach dem Türgriff und öffne langsam die Tür. Die Sonne steht schon tief, sodass es beinahe dunkel ist.

Etwas drehe ich mich noch zu ihm, bevor ich aus dem Auto trete. „Mir tut es auch leid, Harry", sage ich mit heiserer Stimme.

Er sagt nichts. Sieht nur weiterhin aus dem Fenster und ignoriert mich.

Und mir tut es wirklich leid. Mir tut es leid, was mit ihm geschehen ist und mir tut es leid, dass er nie Liebe erfahren hat. Nie. Auf keine Art und Weise, nicht mal von seinem eigenen Bruder.

Ich schließe die Tür und laufe gekränkt über den Bürgersteig zu meinem Haus. Jetzt lasse ich es raus. Jetzt schluchze ich auf. Ich nehme keine Rücksicht mehr auf niemanden, ich schluchze einfach in meinen Jackenärmel und wünschte, es wäre einfacher.

„Honor-Marie", ertönt plötzlich eine helle Stimme aus dem Nichts, was mich aufschrecken lässt.

Mit pochendem Herzen blicke ich nach rechts und sehe Esther, die verrückt grinsend vom Tor auf mich zugelaufen kommt. Sie scheint am Rand gewartet zu haben. Auf mich?

Sofort gehe ich einen Schritt zurück. Sie wirkt heute nicht mehr so verrückt, doch trotzdem habe ich Angst vor ihr. Letzte Nacht ist noch nicht vergessen. Und jetzt sehe ich sie nur noch als Monster. Das Monster, das Harrys Leben zu einer reinen Tortur gemacht hat.

Sie kommt mir näher und legt ihren Kopf schief. „Honor-Marie, weinst du etwa?"

Ich schüttle schnell den Kopf und versuche ihrer Hand aus dem Weg zu gehen, die wieder meine Wange angesteuert hat. „Nein", sage ich knapp.

„Doch, Honor-Marie ... Was ist los? Bist du traurig?"

„Nein ... Bitte. Ich will rein gehen."

Ich will an ihr vorbei, doch sie hält mich zurück. Ihr Griff ist fest um meinen Arm geschlungen, sodass es schmerzt. „Es ist wegen ihm", raunt sie und ihre Augen werden schlagartig großer. „Nicht wahr? Du warst bei ihm und er hat dich verletzt."

Noch bevor ich etwas sagen kann oder mich auch nur aus ihrem Griff befreien kann, riecht sie an der Schulter meiner Jacke. „Ja", haucht sie und starrt auf den Stoff meiner Jacke. „Du warst bei ihm. Ich kann ihn riechen. Ich kann das geschundene Blut riechen."



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