Kapitel 89 - Ruhiger Schlaf

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Aber eines Nachts stelle ich mir die Frage, wie lange ich in dieser Einsamkeit noch leben kann. Gibt es überhaupt ein Weg hinaus? Auf was hoffe ich eigentlich? Glaube ich wirklich, ich werde ihn je wieder sehen können?

Ein großer Teil in mir, sagt Nein, doch der andere Teil will ihn weiter spüren können. Und ich weiß nicht, warum, doch ich stehe auf und ziehe mich an. Ich muss ihm näher sein. Zwar weiß ich, dass ich ihn heute Nacht nicht sehen kann, doch einen Teil von ihm. Ich will zumindest seinen Duft in seiner Wohnung riechen können und mich an die Nächte erinnern, die ich bei ihm war.

Die Nächte, in denen er gemein war. Und die Nächte, in denen er wollte, dass ich gehe.

Es ist Wahnsinn, wenn man bedenkt, wie oft er mich niedergemacht hat, ich aber trotzdem bei ihm geblieben bin.

Worin habe ich mich eigentlich verliebt? In die Worte, die er nie gesagt hat? In sein Ich liebe dich, das er nie aussprach? Ich muss verrückt sein.

Aber trotzdem ziehe ich mir mein weißes Kleid an, in dem er mich das letzte Mal gesehen hat. Ich trug es nicht noch einmal, nachdem er ging, aber ich denke, dass jetzt der Richtige Zeitpunkt ist. Wenigstens für eine Nacht, kann ich ihm so verbundener sein, auch wenn ich meine Eltern wieder hintergehe.

Um zwei Uhr morgens klettere ich aus meinem Fenster, wie ich es früher getan habe und friere nicht mal. Ich gehe einfach. Ich denke nicht an meine Eltern, ich denke an niemanden, außer das Gefühl, das ich gleich bekommen werde, wenn ich die Räume betrete, die mich so an ihn erinnern.

Ich laufe durch die dunkle Stadt und habe keine Angst. Ich fühle mich, als würde mich ein Band dort hinziehen, zu ihm.

Wahrscheinlich würde ich frieren, wäre ich bei Besinnung, doch ich bin es nicht. Ich bin müde, kaum eine Nacht schlafe ich mehr als drei Stunden, weil das Bild von ihm in meinen Augenlidern brennt, wenn ich meine Augen schließe. Aber vielleicht finde ich bei ihm Schlaf. In seinem Bett, in dem wir lagen. Zumindest nur ein paar Stunden ... Ich will endlich wieder Ruhe in mir spüren.

Als ich bei seinem Haus ankomme, sehe ich auf den Platz daneben, wo sonst immer sein Motorrad stand. Das Teil, auf dem er aussah, wie ein Höllenreiter. Würde mich diese Erinnerung nicht so quälen, würde ich jetzt wahrscheinlich lächeln.

Aber sie quält mich.

Das Haus steht mal wieder offen, weswegen ich es betrete und die kahlen Treppen nach oben laufe. Ich starre nur auf meine Füße, damit ich ihn nicht sehe, wie er die Treppen nach unten stürzt und ich ihm schnell folge, wie damals. Ständig würde ich diese Szenen sehen, dabei will ich das nicht.

Als ich genau vor seiner Wohnungstür stehe und ich sehe, wie sie leicht offen steht, lasse ich all die Erinnerungen zu. Sie plagen jetzt wieder meinen Kopf, wie Insekten, die mich innerlich zerfressen. Doch das ist irrelevant. Ich muss ihm endlich wieder nahe sein.

Ich öffne langsam die Tür, die mit einem leisen Quietschen aufgeht und stehe in seinem Flur. Noch immer liegen Scherben auf dem Boden, noch immer sind die Regale zerstört. Alles sieht so aus, wie das letzte Mal, als ich hier war. Es riecht noch nach ihm.

Ich laufe durch den kleinen Flur hinein ins Wohnzimmer, sehe mich um, trauere, atme, erinnere mich.

Ich berühre den Sessel, auf dem er immer saß.

Dann öffne ich die Balkontür und steige hinaus ins Kalte. Ich sehe auf den Aschenbecher, der auf dem Fensterbrett steht. Seine Zigaretten. Sie liegen dort noch, als wäre er noch immer hier. Doch das ist er nicht.

Ich wünschte, ich würde rauchen. Am liebsten würde ich jetzt gerade eine Zigarette rauchen, um ihm noch näher sein zu können. Ich würde immer das gleiche Kratzen in meinem Hals spüren, das er immer spürte, wenn er den giftigen Rauch einatmete.

Morgen werde ich mir Zigaretten kaufen und sie alle rauchen. Ich würde alles tun, um so zu sein wie er.

Ich erinnere mich an den Moment, in dem wir hier gemeinsam waren und ich ihm beim Rauchen zusah. Es ist eine warme Erinnerung, sie sollte mir eigentlich einfach nur das Herz erwärmen. Doch ich schauere, weil mir nur kälter wird. Es ist merkwürdig, sich an eine schöne, warme Erinnerung zu erinnern und trotzdem zu frieren.

Und dann laufe ich in sein Schlafzimmer. Ich denke nicht viel nach. Ich schließe die Tür hinter mir und sehe durch die Dunkelheit auf das dunkle Bett, in dem ich wünschte, er würde jetzt mit mir dort liegen.

Ich gehe darauf zu. Ich schlage die dünne Decke nach hinten und lege mich hinein.

Sofort fühle ich mich wohler, obwohl es nur schlimmer wird. Ich rieche ihn überall. Ich kann sogar seine Präsenz spüren, so verrückt bin ich schon.

Ich decke mich nicht zu. Ich friere so oder so. Nichts könnte mich besser fühlen lassen, außer seinen Körper genau neben meinen und seine Stimme, die mir leise zuflüstert, dass er eine Millionen Jahre mit mir leben will, mich im Himmel und auf Erden lieben wird und es ihm schrecklich leid tut, dass er mich so leiden lassen hat.

Ich schließe die Augen. Ich atme. Ich atme. Ich atme. Ich spüre, wie ich immer müder werde. Mein Körper wird schwächer. Meine Erinnerungen verwelken. Alles schwindet und seit langem, erlaube ich mir wieder, mich endlich komplett gehen zu lassen, denn jetzt gerade bin ich ihm nahe. Das hier ist keine Vorstellung. Ich liege wirklich in seinem Bett.

Doch wünsche ich mir trotzdem, er wäre hier. Ich wünsche es mir so sehr, bin gleichzeitig doch so verzweifelt, dass ich mir sicher bin, ich werde gleich wieder von ihm träumen.

Ich drehe mich zur Wand und versuche weiter die Augen geschlossen zu halten. Ich darf nicht wieder zulassen, dass er meinen Körper übernimmt. Jetzt gerade muss ich einmal in Ruhe schlafen. Nur einmal.

Doch mein Kopf scheint mich nicht in Ruhe lassen zu wollen.

Ich bilde mir ein, wie ein Geräusch ertönt, ich kann es nicht zuordnen. Ich bilde mir Schritte ein. Ich bilde mir ein, wie sich die Matratze hinter mir senkt und ich bilde mir ein, wie sich ein Körper hinter mich legt.

Ich bilde mir ein, seinen Duft zu riechen.

Ich bilde mir ein, wie er seinen starken Arm um mich legt und mich an seine Brust drückt.

Und dann bilde ich mir ein, wie er seinen Kopf in meinem Haar vergräbt, tief durchatmet und die Wärme seines Atems auf meiner Haut verteilt.

Und weil ich weiß, dass all das nur in meiner Vorstellung geschieht, spreche ich zu ihm. „Wieso bist du hier?"

Er drückt mich enger an sich. „Ich wusste, du würdest hier sein", gibt er leise zurück und es klingt so real.

Seine Stimme verpasst mir eine Gänsehaut am ganzen Körper, wie sie es früher tat.

„Und ich wusste, ich würde keinen weiteren Tag überleben, ohne dich bei mir zu haben."

Und dann ... Und dann öffne ich die Augen.

Er ist hier.


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