Kapitel 44 - Großer Bruder

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Wir folgen Harry in seine Wohnung und ich werfe Dale einen verunsicherten Blick zu. Das klang ja wirklich nicht so begeistert, wie Harry uns empfangen hat, allerdings bin ich mir noch nicht sicher, ob er Dale wirklich erkannt hat. Nach dreizehn Jahren ist es beinahe unmöglich.

Dale lächelt mir nur aufmunternd zu, während wir Harry ins Wohnzimmer folgen. Er scheint nicht so eine Panik zu haben, wie ich. Doch das ist natürlich auch verständlich. Dale ist der größere, ältere Bruder. Wie mickrig müsste er sich machen, wenn er Angst vor seinem kleinen Bruder hat? Und weil Dale ebenfalls diese dunkle Aura ausstrahlt, bin ich mir sicher, dass er sich mehr als beweisen kann, sollte Harry wirklich ausflippen.

Harry setzt sich auf den Sessel im Wohnzimmer und ich setze mich neben Dale auf die Couch ihm gegenüber. Er beobachtet jeden Schritt, den Dale macht. Jetzt bin ich mir beinahe sicher, dass er ihn erkennt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ohne Grund jemanden gleich so vernichtend ansieht.

Er sieht uns beide einfach nur an, während wir so da sitzen und Diabo sich neben Harry setzt, als würde er ihm beistehen. Gemischt mit Harrys durchdringendem Blick und Diabos schwarzem Fell, könnte hier wirklich ein Anwärter auf den Teufelsthron sitzen.

„Rede", sagt Harry schließlich als erstes zu Dale, als die Luft immer stickiger wird. Er wirkt extrem gleichgültig. Das komplette Gegenteil von dem, was wir erwartet haben.

„Okay, pass auf", sagt Dale und lehnt sich nach vorne, stützt seine Ellenbogen auf seine Knie. „Ich dachte, ich müsste es dir sagen, doch ich bin mir sicher, dass du weißt, wer –''

„Ich weiß, wer du bist", unterbricht Harry ihn ruhig und sieht ihn weiter an.

Dale atmet tief durch. „Okay, du weißt es. Harry, ich ... Ich werde dir keine abgefuckte Geschichte über die letzten dreizehn Jahr bieten, ich bin mir sicher, dass interessiert dich auch gar nicht. Ich komme wegen etwas anderem."

Abwartend sehen wir ihn an. Sein Blick strahlt noch immer diese Gleichgültigkeit aus. Sogar Diabo sieht angespannter aus.

Weil Harry nichts sagt, redet Dale weiter. „Es geht um unsere Eltern. Sie sind hier."

Wieder sagt Harry nichts. Es regt sich kein Stück in seinem Gesicht.

„Du solltest wissen, dass ich ständig sicher gegangen bin, dass sie dir nicht zu nahe kommen und ich habe mir geschworen, wenn sie dir folgen, dann werde ich dich warnen. Das bin ich dir schuldig."

Erneut sitzt Harry einfach nur da und sieht ihn an. Er macht mich nervös. Er kann unmöglich wirklich so ruhig sein, wenn hier vor ihm sein Bruder sitzt, den er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat.

„Eduard hat mich all die Jahre auf dem Laufenden gehalten", spricht Dale weiter. „Ich wusste immer, dass es keinen Sinn machen würde, zurück zu kommen, deswegen bin ich weggeblieben. Doch ich wusste auch, dass wenn der Zeitpunkt gekommen ist, ich zu dir kommen muss. Und der ist jetzt gekommen. Sie suchen dich, Harry. Sie wollen das hier ... Du weißt schon. Sie wollen es verhindern. Du musst vorsichtig sein. Es-''

„Du erbärmliches Stück Dreck", unterbricht Harry ihn abwertend. Seine Miene noch immer emotionslos, doch seine Augen drücken so viel aus.

Dale schweigt sofort. Und ich fange sofort an, zu schwitzen. Das ist kein guter Anfang.

„Du jämmerlicher Bastard", führt Harry seine Beleidigungen fort.

„Harry", spricht Dale wieder und atmet durch. „Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich immer gekommen wäre, wenn es verdammt nochmal gefährlich wird. Und ich bin hier. Um dir zu helfen."

Für eine Sekunde schließt Harry die Augen. Sein rechter Mundwinkel hebt sich und er lacht bitter auf. „Du kommst, wenn es gefährlich wird", sagt er. Seine Stimme tiefer als sonst. Er sieht Dale wieder genau an. „Ich sollte dich umbringen."

„Wahrscheinlich hätte ich es verdient."

Harry richtet sich mehr auf, lehnt sich bedrohlich nach vorne. „Aber eigentlich bist du ja schon tot ... Nicht wahr? Dale."

„Harry ... Es geht nicht um die Vergangenheit, versuch das zu verstehen. Es geht darum, dass-''

„Weißt du eigentlich, was sie mit mir gemacht haben?", unterbricht Harry ihn wieder, beängstigend leise.

Dale wird ebenfalls nervös. Er reibt sich über die Stirn und sieht Harry nicht mal an. Er muss sich unheimlich schuldig fühlen.

„Hast du überhaupt eine scheiß Ahnung, was passiert ist, als du, du lächerlicher Feigling, abgehauen bist?" Harry ist immer noch ruhig, doch seine Worte kommen aus ihm heraus, wie Pistolenschüsse. „Ich sollte dir all das antun, was sie mir angetan haben. Du erbärmlicher, abgefuckter, ..." Er wird mit jedem Wort zorniger, doch dann rümpft er aggressiv die Nase und sieht von Dale weg. „Dreizehn Jahre", spuckt er. „Dreizehn verkackte Jahre."

Ich sehe, wie Dale schluckt. Kurz herrscht eine drückende Stille im Raum, dann sagt er schließlich leise: „Es tut mir leid. Es sollte nie so kommen."

„Es ist aber so gekommen", raunt Harry. „Du bist gegangen, weil du schwach bist. Und du wirst es immer sein. Großer Bruder."

Wieder werden wir von eiserner Stille geplagt, doch dann richtet Dale sich auf. Er wirkt jetzt entschlossener. „Ja, ich war ein beschissener Bruder und wahrscheinlich habe ich noch mehr verdient, als das, was du mir vorwirfst, doch jetzt geht es um mehr. Du weißt ganz genau, wovon ich rede."

Harry lehnt sich wieder zurück. Ein wenig Zorn verschwindet aus seinen Augen. Er sieht zu mir, dann wieder zu Dale. „Wieso ist sie hier?"

„Weil du sonst alles auseinander genommen hättest und das weißt du. Ich wusste, sie würde dich beruhigen."

Wie vor den Kopf geschlagen, sehe ich Dale an. Er denkt, ich beruhige Harry? Da liegt er aber mal so was von falsch. Ein Wunder, dass er mittlerweile nicht schon zehn Zigaretten hintereinander raucht, während ich in seiner Nähe bin.

Noch bevor Harry etwas sagen kann, sagt Dale wieder mit erhobenen Augenbrauen zu ihm: „Du weißt es."

Erwartungsvoll sehe ich zu Harry und hoffe, irgendeine Reaktionen darauf zu sehen. Ich beruhige ihn? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Doch Harry sitzt weiterhin gleichgültig in seinem Sessel und sieht Dale nur an. „Wo sind sie momentan?", fragt er nur.

„Ich weiß es nicht", sagt Dale und lehnt sich zurück.

Ich atme unauffällig erleichtert aus. Die Stimmung scheint sich ein wenig gelockert zu haben, wenn auch nur ein bisschen. Ich bin froh, dass die Beleidigungen aufgehört haben.

„Ich weiß, dass sie wieder nach Cardiff gezogen sind, doch mehr weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass sie Kontakt mit Honors Eltern aufnehmen werden", spricht Dale weiter.

Ich bin sofort aufmerksamer. „Mit meinen Eltern?", traue ich mich den ersten Satz zu sagen.

Er nickt. „Ja. Unsere und deine Eltern waren früher schon immer gut befreundet. Es ist gut möglich, dass sie wieder all ihre alten Kontakte knüpfen werden."

Nachdenklich verziehe ich den Mund. Harrys Eltern waren mit meinen befreundet? Das wusste ich nie. Ich habe seine Eltern noch nie gesehen, geschweige denn von ihnen gehört und so wie es klingt, müssen es abscheuliche Menschen sein. Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine Eltern wirklich mit ihnen verkehrten.

„Was ist mit Eduard?", fragt Harry. „Wieso bekommt er seine Fresse nicht auf?"

„Weil er denken wird, dass du Cardiff verlassen wirst, wenn du weißt, dass sie hier sind. Und weil du so ein dreckiger Wichser bist, der für ihn arbeitet, darf er es nicht drauf anlegen."

Ich hebe die Brauen und höre ihnen weiter zu. Anscheinend liegen die Schimpfwörter wirklich in der Familie.

„Dieses beschissene Arschloch", knurrt Harry. „Aber ich werde Cardiff nicht verlassen. Nochmal renne ich nicht weg."

„Aber vielleicht wäre das besser." Dale zieht sich die Kapuze vom Kopf und wuschelt sich wieder durch die Haare. „Dieses Mal ist es gefährlicher als sonst. Du bist nicht mehr allein und das wissen sie. Deswegen sind sie hier."


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