Kapitel 1

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„Ich werde da heute hinfahren." Entschlossen steckte ich meine Gabel in meinen Mensakartoffelbrei und ignorierte die Tatsache, dass sie darin stecken blieb wie in Beton.

Meine beste Freundin Olivia, die mir gegenüber am Tisch saß, schaute von ihrer Zeitschrift auf und schob sich nebenbei noch eine Gabel in den Mund. „Was?", nuschelte sie mit vollem Mund.

„In das Reservat. Wegen der Arbeit", erklärte ich ihr.

„Du willst da einfach hinfahren? Zu den Indianern?" Skeptisch zog sie eine Augenbraue nach oben. „Meinst du nicht, dass die lieber unter sich bleiben? Ich meine, immerhin haben die sogar ihre eigene Schule."

„Mrs. Hemmingway meinte, ich sollte überprüfen, ob die schriftlichen Überlieferungen mit den Geschichten, die sie sich erzählen, übereinstimmen."

Liv seufzte. „Hättest du dir nicht ein einfacheres Thema raussuchen können?"

Kritisch sah ich sie an und konnte nicht anders, als sarkastisch zu grinsen. „Du schreibst darüber, wie die Fischerei die Region hier geprägt hat. Ich glaube, da bevorzuge ich mein Thema."

Meine Freundin schnaubte, wischte sich die dunklen Haare aus der Stirn und blätterte eine Seite weiter. „Ich würde ja mitkommen, aber ich muss arbeiten", sie seufzte. „Die Jungs da würde ich mir sonst nicht entgehen lassen."

Das brachte mich zum Lachen. Es war typisch für Olivia, in solchen Situationen an Jungs zu denken. Sie war schon immer viel mehr an ihnen interessiert gewesen als ich - und umgekehrt. Im Moment ging sie mit dem Kapitän unserer schuleigenen Footballmannschaft den „Spartans". Ich dagegen nahm sie zwar wahr, war auch mit einigen gut befreundet, aber wirklich Interesse hatte ich an ihnen nicht gehabt.

„Was denn? Hast du dir die Typen da schon mal genauer angesehen?", verteidigte sie sich.

„Ehrlich gesagt nein", lachte ich.

„Da hast du was verpasst, Süße, glaub's mir. Kein Wunder, dass Logan ein gebrochenes Herz hat - du nimmst ihn ja nicht einmal als männliches Wesen wahr."

„Natürlich nehme ich ihn als männliches Wesen wahr", empörte ich mich, „aber was hat das denn jetzt bitte mit Logan zu tun?"

Liv zog eine Augenbraue nach oben. Anscheinend hatte ich irgendwas Offensichtliches nicht mitbekommen.

„Ist ja auch egal", wehrte ich ab, weil ich nicht wirklich Lust hatte, über Logans Gefühlswelt zu reden. „Ich werde da heute hinfahren. Gleich nach der Schule."

~

Eine quälende, ätzend lange Mathedoppelstunde später, in der Mr. Blair es sich nicht hatte nehmen lassen, mich vor der ganzen Klasse an der Tafel zu blamieren, war ich auf dem Weg nach La Push, dem Indianerreservat neben meiner Heimatstadt Forks. Forks war eine nicht nennenswerte Kleinstadt im Bundesstaat Washington, USA, in der gefühlt einmal im Jahr die Sonne schien; trotz allem lebte ich eigentlich gern hier. Ich liebte die grünen Wälder, die Täler, die kleinen Bachläufe. Sie waren ein Paradies für Hobbyfotografen wie mich, weil sie immer anders aussahen.

Kaum hatte ich die Schule verlassen, wich meine schlechte Laune - vielen Dank auch, Mr. Blair - einem Gefühl der Freiheit. Ich brauste mit meinem Roller, einer türkisfarbenen Vespa Px 50, die Straße zum Reservat entlang. Ich liebte ihn. Liv machte sich immer über mich lustig, wenn ich auf ihm mit meiner Kamera unterwegs war, weil sie meinte, ich sah dann aus wie Carla Columna. Aber die hatte schwarze Haare und keine roten.

Während die Wälder an mir vorbeistrichen, fragte ich mich, ob es eine gute Idee war, einfach unangemeldet im Reservat aufzutauchen. Ich kannte dort niemanden - und vielleicht hatte Liv ja Recht und sie blieben lieber unter sich.

Andererseits war es einen Versuch wert.

~~~
Denkt ihr, man wird ihr helfen? Oder muss sie sich ihre Infos für die Arbeit anders beschaffen?

this is lycanthropy (Embry Call)Where stories live. Discover now