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In dieser Nacht schlief Arion schlecht. Obwohl er anfangs von den wunderschönen Frühlingslandschaften seines Großvaters geträumt hatte, verwandelte sich sein Traum schnell in einen Albtraum. Wolken zogen auf und es begann zu schneien. So schnell und so viel, dass alles weiß wurde und Arion jegliche Orientierung verlor. Plötzlich sah er im Schneetreiben schwarze Gestalten, die genauso herumirrten wie er. Vor ihm tauchten wie aus dem Nichts zwei Gestalten auf. Eine männliche und eine weibliche. Sie hatten kein Gesicht, aber Arion wusste instinktiv, dass es sich bei der einen um Lara handeln musste. Blonde Haare wirbelten im Wind.

"Warum hast du mich nicht gerettet?", fragte ihre Stimme traurig. "Warum hast du mich dazu gedrängt?", fragte die zweite Gestalt. Arion wollte antworten, doch da wurden ihre Gestalten vom Wind fortgerissen. Arion schrie Laras Namen, aber seine Stimme ging im Lärm des wehenden Sturms unter. Doch plötzlich hörte er ein Grollen, laut und unverkennbar. Arion brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste sofort, was dieses Geräusch bedeutete. Nichts Gutes. Er setzte seine Füße in Bewegung, in der Hoffnung, dem näherkommenden Geräusch zu entkommen. Doch er schien auf der Stelle zu laufen, nicht voran zu kommen. Die Schneelawine hinter ihm rollte immer näher, unaufhaltsam auf ihn zu. Er rannte weiter. Doch die Lawine walzte unbarmherzig auf ihn zu, schien immer schneller zu werden und plötzlich zog es ihm die Beine unter dem Körper weg und er wurde unter der Schneedecke begraben.

Schwitzend schreckte Arion aus dem Schlaf, sein Rücken war ganz nass und auf seiner Stirn glänzten die Schweißperlen im schwachen Schein des Feuers. Arion schnappte nach Luft. So einen Traum hatte er schon lange nicht mehr. Seit dem "Unfall" plagten ihn Albträume. Sie waren mit der Zeit seltener geworden, doch nie wirklich ganz verschwunden. Dass er nun doch wieder davon geträumt hatte, verstörte Arion. Er wusste schon, dass er jetzt unmöglich weiter schlafen konnte. Sein wild pochendes Herz beruhigte sich langsam wieder, als er sich aufsetzte und seine Füße in seine gefütterten Hausschuhe steckte. Er schlug die dicken Decken zurück und tapste auf den Holzdielen zum Kamin. Das Feuer im Kamin war fast herunter gebrannt, nur noch ein sachter Schimmer erhellte das Innere der Hütte. Es wurde dringend Zeit, dass Arion das Feuer wieder in Gang brachte, denn die Kälte von außen fand immer und sehr schnell einen Weg ins Innere. Mit einem Eisenhaken deckte Arion die Glut auf und warf neues Holz darauf. Es dauerte eine kurze Weile, dann fing das Holz Feuer und lebhaft an zu knistern.

Arion sah sich in der Hütte um. Hinter ihm, gegenüber des Kamins, schliefen seine Eltern. Sein Blick wanderte weiter zur Hüttenwand, wo seine Schwestern in ihrem Hochbett friedlich schlummerten. Im Bett davor schnarchte farfar tief und fest. Und Arions Bett in der Ecke davor stand natürlich leer. Die Luft war warm und von den ruhigen Atemzügen seiner Familie erfüllt. Arion wurde endlich ruhiger, seine Gedanken kamen zur Ruhe und er schwitzte auch nicht mehr, als er sich auf einem Sessel vor dem Kamin niederließ. Das Feuer wärmte sein Gesicht, als er in die tanzenden Flammen schaute.

Trotz allem ließ sich der Traum nicht aus seinem Kopf verbannen und er musste an Lara denken. Er fühlte sich schuldig. Allein das Wissen, dass er sie möglicherweise, nein, höchstwahrscheinlich im Schnee gesehen hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Als er damals unter dem Schnee begraben war, war er zwar bewusstlos, aber trotzdem konnte er sich an die Schwere und die Kälte erinnern. Nicht umsonst hielt er so viel Abstand wie möglich zum Schnee. Was natürlich sehr schwierig war, wenn man in einem Land wohnte, in dem es dauerhaft Winter war. Wenn Lara wirklich da draußen war, dann überlebte sie die Nacht sicher nicht. Arion wusste das, er war alt genug, um sich nichts vorzumachen. Trotzdem schickte er ein kurzes Stoßgebet an Odin, den großen Gott, und betete, dass es Lara gut ging. Oder wenigstens wieder, wenn sie in Walhalla war.

Der Großvater ließ ein lautes Schnarchen ertönen, sodass Arion grinsen musste. Sein farfar. Er hatte ihn wirklich gern, aber leider ging es ihm zunehmend schlechter. Immer öfter vergaß er Dinge und konnte sich danach auch nicht mehr daran erinnern. Arions Mutter erklärte immer, dass es in Großvaters Kopf wie mit einem Schubladensystem funktionierte. Öffnete man eine Schublade, so hatte man die Erinnerung, aber dann fiel sie weg, wie in eine Schlucht und konnte nicht mehr zurückgeholt werden. Arion dachte an gestern Nachmittag, als sein Großvater ihm vom Frühling erzählt hatte.

Erwachen des FrühlingsWhere stories live. Discover now