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Zwei Tage später fand Laras Beerdigung statt. Im übertragenen Sinne. Denn leider mussten Laras Eltern einen leeren Sarg beerdigen. Das ganze Dorf hatte sich im Halbkreis um das mühsam ausgeschaufelte Loch im Boden versammelt, während Laras Familie direkt davor stand. Alle waren betreten, schauten auf den Boden, fühlten mit der Familie. Auch Arions Familie war anwesend. Arion selbst stand weiter hinten in der Menge, seine Schwester Finya vor ihm, er hatte seine Hände auf ihre kleinen Schultern gelegt. Heute war es wieder sehr kalt und grau, als würde das Wetter den Verlust mit betrauern.

Arion hatte immer noch ein furchtbar schlechtes Gewissen. Das alles war nur wegen dieser abartigen Kälte passiert. Wäre sie nicht, wäre Lara vermutlich noch am Leben.

Arion wollte, nein musste, etwas dagegen tun. Eine Wut bildete sich in seinem Bauch, wie ein Knoten, der ihm schwer im Magen lag. Die Idee von vor zwei Tagen, zum Kaltberg aufzubrechen und den Frühling zurück zu bringen, ließ ihn nicht mehr los. Obwohl er versucht hatte, sie zu verdrängen, war sie durchaus reizvoll. Und auch völlig abartig. Ihm war bewusst, wie gefährlich diese Reise wäre, er wusste wie gefährlich der Schnee war.

Und nicht einfach nur gefährlich, lebensgefährlich wäre wohl der bessere Ausdruck. Bevor Arion überhaupt auf dem Gipfel des Kaltbergs beziehungsweise auf dem Kloster ankommen würde, wäre er vermutlich schon längst erfroren. Natürlich wusste er, wie man sich im Schnee schützen und helfen konnte, um wenigstens eine Nacht zu überleben. Das waren Grundlagen, die die Kinder in den Graulanden neben Rechnen und Lesen eigentlich lernten, aber wenn man nicht vorbereitet war, so war ein plötzlicher Schneesturm tödlich. Und Lara war nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte keine Chance gehabt.

Auch wenn er wusste, wie unsinnig seine Idee war, so war sie doch faszinierend und er ließ seine Gedanken weiterschweifen. Was bräuchte er denn überhaupt alles, um auf so eine Reise zu gehen? Wie lange würde er brauchen? Sollte er jemanden mitnehmen? Jemand Vertrautes? Vielleicht einen seiner Freunde. Obwohl die ihn vermutlich nur auslachen würden.

Die letzten Nächte hatte er immer wieder vom Frühling geträumt, so wie sein Großvater es ihm beschrieben hatte. Grüne Wiesen, blühende Blumen und Bäume, Vogelzwitschern, seine Fantasie kannte kein Ende. Auch sein farfar hatte vom Frühling geschwärmt und Arion konnte sich vorstellen, wie gern dieser den Frühling erleben würde.

Andererseits... er würde seine Familie zurücklassen müssen, vielleicht würde er es auch nie schaffen zu ihr zurückzukehren. Wer wusste denn schon, was eine solche Reise von einem forderte. Und seine Schwestern nicht mehr sehen zu können... Allein bei der Vorstellung schnürte es ihm die Kehle zu.

"Arion! Aua!", riss ihn da eine Stimme aus seinen Gedanken. Er blinzelte, um seine Augen zu befeuchten, die vom Ganzen in die Leere starren trocken waren. Er blickte nach unten, um seiner Schwester Finya ins Gesicht zu sehen.

"Hm?"

"Du tust mir weh, du drückst meine Schultern so fest.", antwortete die Kleine und wand sich ein bisschen. Sofort lockerte Arion seinen Griff, er hatte nicht bemerkt, dass er sich während seiner Überlegungen immer mehr versteift hatte.

Er blickte um sich und stellte fest, dass die Trauergemeinschaft sich langsam auflöste. Die Beerdigung war beendet. Nun würde ein kleines Mahl stattfinden, zu dem sich alle im Schulhaus des Dorfes einfanden. Das war ein einzelner Raum, eine Hütte, in der die Kinder normalerweise etwas lernten. Arion war schon länger fertig mit seiner Schule, er konnte lesen und rechnen und - theoretisch - im Schnee überleben. Seine Schwestern gingen aber noch hin und oft konnte er ihnen mit ihren Aufgaben helfen. Nun aber war der Raum umfunktioniert worden, die Schultische standen jetzt in einer langen Tafel aufgereiht, damit alle daran Platz fanden. Arion konnte schon das Rentier riechen, das es zum Essen geben würde. Aber er hatte keinen Hunger. Und er hatte keine Lust in Gesellschaft anderer Leute zu sein.

Erwachen des FrühlingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt