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"Bist du Balder?"

Der Mann drehte sich nicht um. Er zuckte auch nicht zusammen beim Klang von Arions Stimme. Langsam schlug er das Buch zu, dass er in der Hand hielt und stellte es zurück zwischen die unzähligen anderen Bücher, die diese Regale hier beherbergten.

"Nein.", antwortete der Mann nun. Zu Arions Überraschung klang seine Stimme jung und jugendlich, seiner eigenen Stimme nicht unähnlich. Arion stutzte. Das war nicht Balder? Gut, zugegeben hatte er sich einen Gott größer und mächtiger vorgestellt, nicht so schmächtig wie dieser Mann hier. Aber wenn er nicht Balder war, wer war er dann und wo Balder? Auf seinem kleinen Streifzug durch den Gang vorhin hatte Arion niemand anderen entdecken können.

"Ich bin nicht Balder.", fuhr der Mann fort. "Mein Name ist Jarmil." Nun endlich drehte er sich um. Arion fielen fast die Augen aus dem Kopf. Vor ihm stand kein alter Mann, wie Arion vermutet hatte. Vor ihm stand ein Junge, nur wenige Jahre jünger als er selbst. Arion war unfähig, irgendetwas zu erwidern. Er schätzte ihn vielleicht auf fünfzehn, sechszehn Jahre. Sein Gesicht war markant, vielleicht zu markant für sein Alter. Seine Augen stachen aus seinem blassen Gesicht hervor. Allein sein Anblick zog Arion so in seinen Bann, dass er sich nur mit einiger Mühe aus seiner Starre losreißen konnte. Er wollte schließlich nicht unhöflich sein und die ganze Zeit starren.

"Ich...ähm... ich bin Arion.", brachte er dann schließlich hervor.

"Ich freue mich, dich kennenzulernen, Arion.", erwiderte Jarmil mit einem leichten Kopfnicken. Sein Verhalten verwirrte Arion. Dieser Jarmil wirkte so erwachsen und weise, überhaupt nicht seinem Alter entsprechend. Überhaupt passte nichts an Jarmil zu seinem Aussehen und Auftreten.

Der Junge schob sich an Arion vorbei, Richtung Tür. Arion machte instinktiv Platz, er wollte ihm auf keinen Fall im Weg stehen. Es war, als würde Jarmil eine unsichtbare Aura umgeben. Es - nein, er war faszinierend.

Jarmil verließ den Raum, bedeutete Arion jedoch, ihm zu folgen.

"Ich hoffe, deinem Kopf geht es gut.", sagte Jarmil. Ungewollt fasste sich Arion auf den Kopf.

"Naja, ich habe leichte Kopfschmerzen, aber ansonsten geht es mir gut, glaube ich." Als Antwort bekam er ein Nicken. Schweigend folgte Arion Jarmil durch den Gang. Durch die bunten Glasfenster fiel Sonnenschein und warf farbige Lichtreflektionen auf die Steinwände und den Boden.

"Wo sind denn alle?", fragte Arion.

"Alle?", erwiderte Jarmil.

"Ja. Wer lebt noch in diesem Kloster? "

"Nur du und ich sind hier. Und dein Rentier in den Stallungen."

"Was? Wir sind alleine hier?", fragte Arion fassungslos. "Moment, heißt das, du warst ganz alleine, bevor ich herkam?"

Wieder nickte Jarmil. Arion blieb der Mund offen stehen. Jarmil konnte doch nicht alleine hier leben! Wo waren seine Eltern? Wo kam Jarmil her? Oder war er wie Arion hierhergekommen? Eigentlich sah es eher so aus, als würde er hier leben, so wie er sich in diesem Kloster auskannte. Unzählige Fragen schwirrten in Arions Kopf herum und er musste einige dringend loswerden.

"Aber...", wollte er weiter fragen, doch Jarmil schnitt ihm das Wort ab, indem er vor einer Türe stehen blieb. Geschmeidig öffnete Jarmil die Türe und ließ Arion ein weiteres Mal staunend stehen. Der Anblick, der sich Arion bot, war kaum zu fassen. Vor ihm erstreckte sich ein Hof, der zwar von einem Gang umgeben war, aber durch viele aneinander gereihte Torbögen geöffnet war. Inmitten dieses Hofes konnte Arion nur eine Farbe sehen. Grün! Alles war grün und blühte. Unzählige Pflanzen wuchsen überall und rankten sich sogar an den Säulen der Torbögen empor. Arion sah kleine Büsche und Bäume, und bei näherem Hinsehen erkannte er sogar, dass diese Früchte trugen. Noch nie hatte Arion so etwas Schönes zuvor gesehen. Die Sonne schien von oben in den Garten herab, da der Innenhof keine Decke besaß. Es war wie eine eigene kleine Welt mitten in einem Kloster. So fühlte es sich zumindest für Arion an. Das musste der Frühling sein! So musste er aussehen und sich anfühlen. Arion wurde von einem ihm unbekannten Glücksgefühl durchströmt, während er versuchte alle Eindrücke gleichzeitig aufzunehmen. Es wirkte alles so surreal.

Erwachen des FrühlingsWhere stories live. Discover now