Kapitel 1

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Ich nahm ein Geschrei aus der Ferne wahr. Es schallte durch die dunklen Straßen bis hierher.

«Züleyha!» brüllte jemand. Nicht irgendjemand. Der Besitzer dieser Stimme, fügte mir eine Gänsehaut zu. Es war...

«Ünal» flüsterte ich panisch und sah zum tauben Mann, aber an seinem Gesichtsausdruck merkte ich, er hört es nicht. Atemlos packte ich ihn an seinem Pulli und blickte ihm flehend ins Gesicht, in der Hoffnung, dass er meine Augen lesen würde.

«Bitte, hilf mir»

*
Eine Stunde vorher

An einem späten Abend im März, saß ich mit meinem Freund Ünal im Vapiano. Wir waren schon sechs Monate lang ein Paar und planten nun unsere erste Reise zusammen mit meiner Schwester.

«Das mit Istanbul wird nichts» sagte Ünal plötzlich, als wir gerade unsere Nudeln aßen. Ich legte die Gabel zur Seite und sah ihn entsetzt an. Er aß einfach weiter und schaute mich an, als ob nichts wäre.

«Aber wieso, Ünal?» fragte ich und verschränkte meine Arme.

«Hör zu, Züleyha» gelangweilt schluckte er runter «Mein Vater und mein Bruder haben im Autohaus eine große Feier geplant und es werden wichtige Gäste kommen. Ich muss helfen.»

«Ausgerechnet in der ersten Woche im Mai?» fragte ich unglaubwürdig. Er nickte tonlos und aß weiter.

Wieder tat er das, was ich befürchtet hatte. Jedes Mal, wenn wir etwas planten, kam etwas dazwischen und es lag zufälligerweise immer an seinem Vater und am Autohaus Eşkazan, das in den letzten Jahren erfolgreich geworden war.

«Schade, echt. Du hast doch schon die Tickets gekauft und das Hotel gebucht. Hast du eine Reiserücktritts-Versicherung gemacht?»
«Nein»
«Okay, Schatz» sagte ich lächelnd, denn ich hatte eine Idee.
«Wie wär's, wenn ich alleine mit Banu fliege und wenigstens meine Familie sehe? Du weißt, ich war wegen dem Studium seit drei Jahren nicht mehr in der Türkei.»

Meine Idee schien Ünal nicht zu gefallen, denn er legte sein Besteck zur Seite und sah mich verwundert an. «Wieso sollten wir sowas machen?» fragte er viel zu ruhig.
«Schatz, du hast so viel Geld bezahlt. Somit geht nur ein Ticket in den Müll und Banu und ich-»
«Züleyha... Was genau wird das?»
«Was wird was? Was meinst du?»
«Das kommt gar nicht in Frage. Wieso würdest du so etwas vorschlagen?»

Ich war verwirrt. Warum auch immer, hatte Ünal etwas dagegen. Ich kannte ihn sehr gut und wusste, dass er ein eifersüchtiger Typ war und immer Bescheid wissen wollte, was ich mache und wo ich bin, aber das lag nur daran, weil er sehr an mir hing und mich liebte. Doch diesmal meinte er es wirklich ernst.

«Züleyha, was genau planst du?»
Planen...?
«Antworte mir!» neugierige Köpfe drehten sich zu uns, als seine Stimme durch den Laden schallte.
«Okay, beruhige dich» flüsterte ich und versuchte die Menschen zu ignorieren.

«Planst du etwas hinter meinem Rücken?!» fragte er laut. Seine lodernden Augen besorgten mich und mit seinen kräftigen Armen hatte er den Tisch gepackt, als würde gleich was passieren.

«Was...? Ünal, jetzt sei nicht so laut. Wieso bist du so?» flüsterte ich und fasste seine angespannte Hand, doch er zog sie weg und stand wütend auf. Sein Stuhl knallte zu Boden.
«Mein Bruder hatte recht.»

Sprechende HändeWhere stories live. Discover now