Kapitel 28

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Yusuf

Das Foto löste eine Reihe von Gefühlen aus, die ich nicht einordnen konnte. Unsicher, ob ich das wollte, nahm ich Züleyha die Kamera aus der Hand und sah mir die Gesichter genauer an.

Das war ich... mit... Eşkazan. Das Merkwürdige dabei war, dass die Szene im Foto leblos wirkte. Ich hatte keinerlei Erinnerung an so einen Moment, geschweige denn, an ein Foto. Toprak hatte gesagt, dass bei der Zwangsausräumung unserer Wohnung alles verschwunden war, an das ich mich vielleicht hätte erinnern können. Was suchte jetzt dieses Foto bei Züleyha?

Plötzlich läutete eine kleine Glocke und tausend Stimmen schossen mir durch meinen Kopf. Kann ich wieder hören, oder sind das Erinnerungen? Ich wagte es nicht, mich zu bewegen und ließ es zu. Einige kannte ich aus meinen Albträumen, aber noch nie zuvor waren die Stimmen so direkt hörbar. Nicht wie unterwasser, sondern klar und deutlich, als ob ich mein Gehör wieder hätte!

»Das ist nie passiert, alles klar?«
»Yusuf, Zeit für's Training!«
»Niemals, Junge.«
»Das ist illegal!«
»Kommst du später?«

Ich spürte Toprak, wie er an mir rüttelte und etwas gebärdete, aber ich blickte wie versteinert auf den goldenen Anhänger der Kamera und konzentrierte mich auf die Stimmen in meinem Kopf.

»Ja, die ist total süß.«
»Yusuf? Bist du zuhause?«
»Ich vertraue denen nicht!«
»Wie war die Schule?«
»Wehe du sagst das jemandem!«
»Toprak, pass auf!«
»Wir sind von der Schülerzeitung.«
»Ich heiße Züleyha.«

»Züleyha« betonten meine Lippen. Toprak ließ mich endlich los. Meine kurze Starre hatte ihn wohl erschreckt.

»Ist alles okay?« gebärdete Züleyha besorgt.

»Nichts ist okay« sprach ich und blickte zu meinem Bruder »Ich glaube, ich werde verrückt. Jetzt bilde ich mir Stimmen ein, die mit mir reden.«

Züleyha wirkte plötzlich wütend und stellte sich direkt vor Toprak und redete etwas, was ich von der Seite nicht lesen konnte. Wieso konnte ich mich nicht an Ünals Gesicht erinnern, wenn ich doch ein Foto von uns zwei direkt vor Augen hatte? Gehörte eines der Stimmen in meinem Kopf etwa ihm?

All die Zeit dachte ich mir, wie verzweifelt ich doch sein musste, um mir Züleyhas Stimme im Kopf auszumalen. Ihre Stimme musste mir doch genau so fremd sein, wie ihr Gesicht? Wieso hatte sie am Vapiano dann so vertraut gewirkt? Wieso überkommt mich dann jedes Mal ein belebendes Gefühl, wenn ich sie mit ihrer Kamera sehe.

...ich heiße Züleyha.
...Schülerzeitung....
...für's Training!

»Stopp!!« brülle ich tief aus dem Hals und hielt instinktiv meine Ohren zu »Seid still!! Sofort!« Ich kniete mich auf den Boden und drückte meine Augen fest zu. Es war zu viel.

Zwei kalte Hände berührten meine Hände, die zwecklos meine Ohren verdeckten. Ich öffnete meine Augen und fand Züleyha vor mir. »Was ist los« las ich an ihren Lippen. Ich schüttelte meinen Kopf, denn ich wusste es selbst nicht. Deshalb antwortete ich

»Die Stille, Züleyha, sie ist zu laut.«

»Was hörst du« gebärdete sie fragend.

Sprechende HändeWhere stories live. Discover now