Kapitel 4

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Du bist sicher hier.
*

Ohne es zu wollen, kam mir eine Erinnerung in den Sinn. An einem Tag, an dem Ünal im Autohaus mit einem Kunden Papierkram erledigen musste, hatte er wie immer gezeigt, was für ein Mann er war. Ich hatte auf ihn gewartet, richtete andere Dokumente nach Datum und lochte sie in einen Ordner, damit wir schneller fertig wurden. Danach hatte ich mich wie immer neben ihn an den Schreibtisch gesetzt, ihn und seine hektische Arbeit beobachtet.

Der Kunde wollte nach zwei Wochen das Auto wieder zurück geben und als Ünal fragte, wieso auf einmal, antwortete der junge Mann «Das Auto war für meine Freundin. Also... Ex. Sie hat mich betrogen und jetzt will ich nichts mehr, was mich an sie erinnert.»

Ünal hatte dem Mann ein tröstendes Nicken gegeben und hatte mit einer Hand seine Schulter gedrückt und gesagt «Kopf hoch, mein Freund. Komm. Such dir ein Auto aus. Ich gebe dir meine Provision.»

So eine Person war Ünal. Nur so kannte ich ihn: Großzügig, spendabel und verständnisvoll. Er hatte mir immer Mut gemacht, meinen Führerschein endlich zu beenden, indem er sagte: «Ehe du den Schein hast, kannst du dir jedes Auto aussuchen. Egal welches.» Daraufhin hatte er mich fest umarmt.

Aber was war jetzt? Jetzt rannte ich vor seiner Stimme weg, weil er wild geworden war, mich öffentlich angeschrien und gepackt hatte. Weil er das Fenster eingeschlagen hatte und weil er mich beschuldigte, ihn zu betrügen.

«Junge Dame» sprach der alte Mann und winkte mich in das hintere Arbeitszimmer «Folgen Sie mir.»

Ich bemerkte, wie er ein kleines Hörgerät in sein Ohr steckte und um die Ecke lief. Der Opa konnte also sprechen und teilweise hören. Der andere Typ wiederum, schien beides nicht zu können. Ich blickte zu ihm und seinem stillen Mund. Er zeigte in die Richtung des Mannes und wies mich darauf hin, ihm zu folgen.

Wieso hatte ich dieses Gefühl, ihm vertrauen zu können? Weil er mir vorhin geholfen hatte? Lag es wirklich daran? Nein. Der Grund, weshalb ich mich hier, nicht in diesem schmutzigen Laden, sondern neben diesem fremden Mann, so geborgen fühlte, war... seine Ruhe. Er schien jede Bewegung fest entschlossen vorher überlegt zu haben. Seine Aura... war fesselnd.

Ich dachte zurück an Ünals zappelige Person. Immer hatte er es eilig. Immer kam etwas dazwischen. Sogar seine Redensart stresste mich manchmal, selbst, wenn es nichts zu stressen gab.

Aber dieser Mann war das Gegenteil. Er schien so friedvoll zu sein, dass ich mich fragte, ob es Selbstbewusstsein oder Desinteresse war.

«Züleyha!» hörte ich plötzlich wieder. Seine kalte Stimme schallte aus der Nähe und drang in den warmen Töpferladen. Er war sehr nah. Die Panik brachte mein Herz zum Rasen. Niemals würde ich mit ihm klarkommen, wenn er mich finden würde. Keine Kraft der Welt würde ihn aufhalten können, mich nicht mitzunehmen. Oder jemanden zu verletzen.
«Ünal darf dich nicht sehen» erklärte ich dem Mann und schüttelte dann verwirrt meinen Kopf, weil ich für eine Sekunde vergessen hatte, dass er nicht hören kann. Aber er nickte sicher, als ob er mich verstanden hätte.

Mir kamen die Tränen. Er verstand mich offensichtlich nicht! Vorhin war er Ünal wohl irgendwie davon gekommen, aber diesmal würde er keine Chance haben! Wieso versteht er das nicht?!

Der alte Mann erwartete mich im Eck des Zimmers und hielt mir eine Klappe hoch, die ein Eingang am Fußboden offenbarte. Eine Steintreppe führte in ein helles Zimmer im Keller.

Ich sah zum alten Mann und flüsterte: «Sagen Sie ihm etwas! Er muss sich verstecken!» Er nickte mir zu und wandte sich dann zu ihm. Mit ein paar Handzeichen überredete er den jungen Mann und deutete die Treppen runter.

Die Überwindung für den Keller hatte mich weniger Zeit gekostet, als vorhin beim Eintreten in den Laden selbst. Nach einem kurzen Atemzug, ging ich vorsichtig die Treppen runter. Im Raum stand ein riesen Kanister, das aussah wie ein Steinofen und an den Wänden waren Regale mit vielen verschiedenen Vasen und Tonblöcken. Der Typ war mir gefolgt und stand nun zusammen mit mir im kleinen Raum.

«Ich rufe dann» sagte der alte Mann mit einem hessischen Dialekt und schloss leise die Kellerklappe.

Für eine Weile herrschte bedeückende Funkstille. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber hörte von da oben nichts.

Der Mann lief zum Arbeitstisch und setzte sich. Unsere Blicke trafen sich, aber ich drehte meinen Kopf schnell weg. Durch die Situation mit Ünal wurde ich wieder nevös und der enge, schmutzige Raum machte es auch nicht leichter.

«Wie ist Ihr Name?» fragte ich endlich, nachdem mir die Stille zu laut wurde. Der Mann schwieg, obwohl er bemerkt hatte, dass ich zu ihm sprach. Ich stöhnte laut. Das ist ja schwieriger als gedacht.

«Wie heißt du?» fragte ich erneut, diesmal, während er mich ansah. Er blickte auf meine Lippen und nickte. Danach stand er auf und öffnete eine Schublade, zog Stift und Papier raus. Ich beobachtete ihn aufmerksam, wie er sich bewegte und wie er den Stift hielt. Er war Linkshänder.

Als ich gerade einen Schritt zur Treppe machen wollte, um vielleicht etwas hören zu können, reichte der Mann mir den Zettel hin. Ich zögerte keine Sekunde, es entgegen zu nehmen und las.

Mein Name ist Toprak. Du bist sicher hier.

«Toprak?» fragte ich verwundert und las seine Notiz nochmals, um sicher zu gehen. Verwirrt betrachtete er meine Reaktion und blickte auf meine Lippen, als ich fragte: «Bist du also Türke?»

Er nickte.

«Kannst du mich hören?» fragte ich, um ihn zu testen.
Er beobachtete aufmerksam, wie ich meinen Mund bewegte und sah dann in meine Augen und schüttelte seinen Kopf, nein.

«Aber du kannst Lippenlesen?»

Toprak nickte.

«Toprak, habt ihr ein Telefon?» fragte ich langsam, begeistert, dass er mich irgendwie verstand und gleichzeitig panisch, weil es meine Rettung wäre.

Aber er schüttelte seinen Kopf und kam zu mir, um den Zettel aus meiner Hand zu nehmen. Er kritzelte schnell etwas drauf und sah mich dann entschuldigend an, als er es mir überreichte.

Da ich nichts höre, hat es keinen Sinn.

Ich seuftzte und versuchte mich davon abzuhalten, an meinen Fingernägeln zu kauen. Ünal ist dort oben, kein Zweifel. Denn er war nicht dumm und würde sicherlich in den Töpferladen, da sonst in der Gegend nichts offen hatte.

«Wie heißt er?» fragte ich Toprak und zeigte zur Kellerklappe. Er hatte meine Lippen gelesen und wusste sofort, wen ich meinte. Aus der selben Schublade, zog er einen kleinen Schlüsselanhänger, mit der Aufschrift Roland.

Was dauerte denn so lange da oben? Wieso kam Roland nicht runter und sagte, dass alles okay war? Das war es also nicht! Irgendwas ging vor sich, aber es war nichts zu hören.

«Okay. Okay. Okay. Beruhige dich» sprach ich zu mir selbst und drehte mich um, damit Toprak nichts merkte. «Alles wird gut. Denk an nichts.»

Was, wenn Ünal Roland etwas antut vor Wut?

«Jetzt reicht's mir» stöhnte ich und steckte den Zettel in meine Jeans.

Panisch ging ich nun auf die Treppen zu. Ich wollte nichts anderes mehr, als diesen engen Keller zu verlassen und einfach irgendwie nach Hause! Toprak stand auf und folgte mir, als er bemerkte, dass ich gehen wollte. Ich war dankbar, dass er mich nicht aufhielt. Er hätte sowieso kein Recht dazu.

Ich drückte die Holzklappe hoch, damit ich wieder frei sein konnte. Toprak merkte, dass meine Arme keine Kraft mehr hatten, also kam er zu mir und half mir die Tür zu öffnen. Sandiger Staub fiel mir ins Gesicht, als die quietschende Klappe zur Seite auf den Boden knallte. Ich hustete auf und schüttelte es mir weg, während ich die letzten Treppenstufen hochging.

«Züleyha?» hörte ich Ünal fragen.

Sprechende HändeWhere stories live. Discover now