Kapitel 22

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*

Sollte unsere Liebe denn so schnell vergessen werden, wie ein ungesungenes Lied? Selbst ein vergessenes Gedicht hinterlässt eine Erinnerung, ein Gefühl. Aber Yusuf, du hast nichts hinterlassen, an das ich mich halten könnte. Du hörst weder das Lied unserer Liebe, weil es ungesungen bleibt, noch hörst du meine Stimme, die nachts nach deinem Namen ruft...

*

»Mahmud hat gesagt, beim ersten Mal passiert nichts. Er hat sich auf mich gestützt. Ich hab versucht ihn aufzuhalten, aber er war extrem betrunken« weinte sie leise und zog ihre Beine dichter zu sich »Ich habe geschrien. Halt! Hör auf! Ich will nicht! Aber-« sie schüttelte ihren Kopf. »Er liebt mich doch, dachte ich, wieso würde er mich dann im Stich lassen, Abla?«

Ich hasste es, dies zu sagen, aber es musste sein. »Banu, er liebt dich nicht. Das habe ich dir gesagt. Auch, dass man ihm nicht trauen kann. Selbst an eurem Söz habe ich dir gesagt, überleg's dir noch einmal.«
»Das ändert jetzt nichts, Abla...«
»Doch. Dein Vertrauen. Du siehst, was Mahmud für Einer ist.«

Banu zog ihre Nase und stoppte kurz, um mich zu verstehen. Ich hoffte, dass sie es akzeptieren würde, aber da war das Baby.

»Meinst du« begann sie in einem wütenden Ton, »ich soll unseren Eltern sagen, dass ich nicht heiraten will, aber schwanger von ihm bin?«

Ich schluckte. »Banu, Schwester« flüsterte ich und strich ihre Haare hinter die Ohren »Du verdienst jemand besseren. Vergiss Mahmud. Heirate jemand anderen. Jemanden, der dich liebt und respektiert.«

»Wen? Wer will bitte eine schwangere Hure heiraten?« Nun weinte Banu unkontrolliert los und fiel in meine Arme.

Was Ünal und Mahmud gestern Abend verlangt hatten, wollte ich Banu nicht verraten. Das Gefühl, ein Teil in einem teuflischen Plan zu sein, wollte ich ihr nicht geben. Aber wenn das so weiter ging...

Ich habe keine andere Wahl.

»Banu« hauchte ich, als sie etwas ruhiger schluchtzte »Mahmud hat eine Bedingung gestellt.«

Sofort löste sie sich von mir und blickte mir mit rot angelaufenen Augen erwartungsvoll entgegen. Ich schluckte.

»Wenn ich Ünal vergebe« die Worte häuften sich in meinem Hals. Irgendetwas stoppte mich, aber mit aller Kraft, presste ich die dreckige Wahrheit hinaus.

»Wenn ich Ünal heirate... wird Mahmud im Gegenzug dazu eure Hochzeit nicht abblasen.«

Eine große Träne entwich Banu aus ihrem Auge. Sie blickte durch mich hindurch und erstarrte für einen Moment. Ich erkannte ein kurzes Zucken in ihrem Mundwinkel und fasste ihre Schulter.

»Er hat mich benutzt« sprach sie amüsiert. Ihr plötzliches Grinsen war kein gutes Zeichen. Sie verlor ihren Verstand. »Benutzt und zur Seite geschmissen. Und das... wegen dir.«

*

Nzinga schleppte mich zwei Tage später mit zu einem letzten Interview mit Roland. Sie war nicht zufrieden mit seinen Antworten und wollte mehr über seine partielle Taubheit und seine Kindheit in NS-Zeiten erfahren. In einem Anschlag auf sein Haus wurde er taub und in den Trümmern übersehen. So konnte er fliehen und versteckte sich bei einer christlichen Familie, mit zehn weiteren Juden. Kurz vor der Kapitulation Deutschlands wurden sie jedoch entdeckt und verbrachten drei Wochen in Ravensbrück. Da war er 12 Jahre alt. Er hatte ein langes Leben hinter sich, aber wollte nichts weiter erzählen. Das wollte ich respektieren, doch Nzinga hielt es für wichtig, es festzuhalten.

Ich stieg aus dem Auto und folgte Nzinga und ihrem selbstbewussten Ziel, Roland zum erzählen zu bringen. Plötzlich stoppte sie, schnipste verärgert und sprach in ihrem tollen Akzent »Zulayha, ich habe die Speicherkarte im Wohnheim vergessen!«

»Schon okay« stöhnte ich unbekümmert »Ich geh' schonmal rein.«
»Warte auf mich, Layha! Ich will dabei sein, wenn er es erzählt!« warnte sie spaßig und joggte zurück zum Auto.

In schweren Schritten, trat ich in den Töpferladen hinein und blieb abrupt an der Türschwelle stehen. Ein Mann in schwarzem Anzug bekleidet, abrasierte Haare, stand an Rolands Arbeitstisch mit dem Rücken zu mir.

»Ehm, wer sind Sie? Wo ist Herr Stern?« fragte ich den fremden Mann.

Etwas stimmte an der Luft nicht. Oder waren es meine Lungen, die sich weigerten zu atmen? Denn plötzlich bemerkte ich das linke Ohr des Fremden und mir wurde warm ums Herz. So trat ich einen Schitt vor und wagte es, meinen Verstand herauszufordern. Das bilde ich mir ein.

»Hörst du mich« sprach ich zitternd und testete meine Vermutung.

Der Mann drehte sich nicht um, stattdessen strich er mit seiner Hand über die hölzerne Arbeitsplatte. Ich erkannte einen Brief in seiner anderen Hand und es füllten sich Tränen in meine Augen.

»Spürst du mich« bebte meine Stimme.

Mit unsicherer Hand fasste ich zum Lichtschalter neben mir und flackerte mit dem Licht.

Mein Yusuf drehte sich um.

Sprechende HändeWhere stories live. Discover now