Kapitel 18

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Bin ich mir sicher,
dass ich nie wieder hören will?

*
Yusuf

Bevor ich dich sah, hörte ich deine Stimme in meinen Träumen. Dabei wusste ich, dass ich in meinen Träumen nur das hörte, was ich bereits gehört hatte. Wie kann das also sein? Deine Stimme sollte mir doch genau so fremd sein, wie dein Anblick?

Manchmal sind es mehr als nur Gedanken, die zu laut sind in meinem Kopf. Es sind Stimmen, die nicht schweigen können. Die Stimmen meiner Eltern, die mich nachts aus meinem Schlaf reißen, oder eine bekannte, jedoch unbekannte Stimme, die ständig nach meinem Namen ruft. Tagsüber plagen mich Geräusche aus der Vergangenheit, die ich ebenfalls nicht zuordnen kann. Meist sind es Hupen, Gebrüll von Zuschauern und Glöckchen, die nicht aufhören zulirren.

Selbst, wenn ich mein Gehör wieder hätte und reden würde wie zuvor, würden mir die Worte fehlen, sie zu beschreiben. So oft ich doch versuchte mich zu überzeugen sie nicht zu wollen, hatte ich am Ende aufgegeben. Ich konnte nicht. Mein Herz rannte in ihre Richtung, mein Verstand summte ihren Namen.

Das begriff ich erst, als ich sie losgelassen hatte. Es regnete wie aus Eimern auf uns herab, als ich mich umdrehte und zurück zu Züleyha rannte. Sie stand da, mitten auf dem leeren Spielplatz und weinte in ihre Hände.

Mit jedem weiteren Schritt, der mich zu ihr trieb, wurde alles leiser um mich herum. Merkwürdig, dachte ich mir, werde ich tauber, als ich es schon bin? Doch ich begriff, dass diese Ruhe ein anderes Empfinden war, was ich noch nie gespürt hatte. Es war Entschlossenheit.

In tiefen Hieben holte sie Luft und schien schluchzend in ihre Hände zu weinen. Langsam nahm ich ihr Handgelenk, um ihr Gesicht zu sehen. Sie stoppte und sah mich schockiert an. Die Regentropfen prasselten leise auf ihr Gesicht und fingen ihre Tränen auf.

Irgendetwas in mir wusste, dass ihr Unfall vor zwei Monaten kein Zufall gewesen ist. Ich berührte vorsichtig ihr Schlüsselbein, welches sie sich gebrochen hatte.

»Wenn dir nochmal etwas passiert...« sprach ich und hielt an. Weiter konnte ich nicht denken.

Züleyha sprang um meinen Hals und das erste Mal konnte ich mit ruhigem Gewissen das Selbe tun. Die Welt war noch nie so leise und still für mich gewesen. Ungeachtet, dass der Regen auf uns hinabfiel, standen wir mitten auf dem Spielplatz und erklärten hiermit eine Wende in unserer Beziehung.

Züleyha sollte von nun an nicht irgendeine Person sein, sondern die einzige Person, deren Wohlergehen mich am meisten sorgte. Dabei hatte ich mir geschworen, keinen weiteren Schritt nach vorne zu setzen. All die Zeit hatte ich dieses Gefühl unterdrückt und mir eingeredet, dass sie besseres verdient hatte. Ich wäre nur eine Bremse in ihrem Leben und ein Hindernis in ihrem Alltag, voran zu kommen.

Gerade, wo ich mich mit meinem Schicksal abgefunden hatte, alles Leid akzeptiert hatte, war Züleyha aufgetaucht. Obwohl sie mich nicht kannte, hatte sie mir damals schon vertraut. Sie kennt nicht mal meinen richtigen Namen... Aber das sollte sich nun ändern.

Der Regen hörte genau so schnell auf, wie er begonnen hatte. Zurück in der Akademie tippte Züleyha ihrer Tante eine Nachricht und setzte sich an den überdachten Tisch im Garten. Ich gab ihr eine Decke, brachte ihr ein Glas Çay und setzte mich neben sie. Züleyha wartete geduldig und gab mir die Zeit, die ich brauchte.

Nach einem kurzen Moment öffnete ich wieder meinen Mund und sprach Worte, die ich nicht einmal selbst hören konnte.

»Fünf Jahre lang habe ich mich von hörenden Menschen ferngehalten. Ich war nie...« kurz räusperte ich mich » Ich hab mich nie wohlgefühlt neben Hörenden. Aber du... Du warst von vorne rein keine hörende Züleyha, auch keine gehörlose Züleyha... sondern einfach du.«

Sie schüttelte ihren Kopf und nahm meine Hände. Ich las ihre Lippen und erkannte irgendetwas wie »spielt keine Rolle.«
Ich fuhr fort.

»Vielleicht wäre es viel einfacher für mich... eine taube Person zu finden. Mein Leben weiterhin so zu führen, aber ich will keine andere. Egal wie schwer es wird.«

Züleyha lächelte schwach und nickte »Ja« sagte sie »Es wird schwer, aber gemeinsam...« Den Rest konnte ich nicht so deutlich ablesen, aber ich nahm an, dass es etwas positives war.

Genau dann fragte mich Züleyha etwas, das ich lieber nicht lesen wollte. Ich ahnte es sofort an den ersten Worten. Es war nur eine Frage der Zeit, redete ich mir ein.

»Gibt es keinen Weg, dass du wieder...?« Sie war durchaus vorsichtig und versuchte diesmal die Antwort zu bekommen. Ich verstand ihre Neugier, aber hatte doch jahrelang gehofft, dass es nie wieder erwähnt werden musste.

»Doch« sprachen meine Lippen »Aber ich will nicht.«
»Du willst nicht hören? Wieso?« fragte sie weiter.

Ich schluckte schwer. Was hatte sich seit dem Tod meiner Eltern geändert? Wieso fühlte ich nun ganz anders über meine Gehörlosigkeit? Es war doch offensichtlich. Es war doch eine klare Strafe von Gott. Aber jetzt... Bin ich mir sicher, dass ich nie wieder hören will?

Vorsichtig sah ich in Züleyhas Augen. Ich hatte Angst. Wovor? Wieder hören zu wollen. Züleyha musste es wissen, damit sie mir recht geben konnte. Ich hatte es nicht verdient zu hören. Oder irgendetwas anderes zu spüren.

»Vor fünf Jahren waren mein Bruder und ich in einem Autounfall verwickelt. Hier in Istanbul. Meine Eltern sind verunglückt.«

Züleyha drückte meine Hand etwas fester.
»... tut mir so leid« schien sie zu sagen. Ich nickte dankbar. So schnell es ging versuchte ich das hinter mich zu bringen. Je länger ich darüber nachdachte, desto öfter würden mich die Stimmen meiner Eltern nachts plagen.

»Ich lag einen Monat lang im Koma und habe mein Gehörsinn verloren. Ein Teil des Feuers hat mein linkes Ohr verbrannt. Mein Bruder-«

Züleyha sah mich fragend an, wieso ich stoppte. Ich sah weg, um nicht in ihre Augen sehen zu müssen, während ich es beichtete.

»Es tut mir leid, dich angelogen zu haben, Züleyha. Aber ich musste es für meinen Bruder tun.«

Züleyha ließ meine Hände los, um mein Gesicht zu sich zu drehen. Sie nickte zuversichtlich und sprach etwas, das ich nicht lesen konnte, weil meine Augen sich mit Tränen füllten. Bevor ich noch meine Kraft verlor, fuhr ich schnell fort.

»Mein Zwillingsbruder war am Steuer unseres Mietwagens. Es hieß, dass wegen ihm fünf weitere Menschen gestorben sind und... dass ihm eine Haftstrafe droht. Ich bin vor ihm aus dem Koma erwacht und konnte mich an nichts der letzten Jahre erinnern. Also habe ich gelogen, um ihn zu schützen. Ich habe gelogen dass ich der Zwilling am Steuer gewesen bin. Ich habe den Polizisten gesagt, dass ich Toprak Karadağ heiße.«

Sprechende HändeWhere stories live. Discover now