Chapter 27

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Ich fasste nicht was ich vor mir sah und konnte es ebenso nicht ändern. Wie eingemauert und selbstverständlich schaute es aus, als ob es nie anders gewesen wäre. Doch ich kannte die Wahrheit, die Realität und diesen Anblick sah ich zuletzt als ich neun Jahre alt war. Es war an einem schönen Wintermorgen, an dem das rot der aufgehenden Sonne, die von Schnee bedeckte Lichtung küsste und die kleinen Eiszapfen vor meinem Fenster zum Glitzern brachte. Ich streckte mich müde und schaute aus der großen Glasscheibe in unseren Garten. Es fing an zu schneien. Meine kleinen Kinderaugen vergrößerten sich vor Vorfreude und ich rief nach meinem Bruder, als ich schon dabei war die Leiter an unserem Bett hinunter zu klettern. Doch als ich mein Blick hob war da nur ein ordentlich gemachtes und abgezogenes weißes leeres Bett.

Nichtsahnend zog ich mir schnell einen Pulli und Socken an. Fast schon gefährlich schnell rannte, nein, sprang ich die einzelnen Stufen unserer Treppe hinunter und schaute in den riesigen Spiegel vor mir hinein. Ein breites Grinsen zierte sich an meinem Mund und die kleine Zahnlücke, meines verlorenen Milchzahns, kam zum Vorschein. Ein unerwartetes Geräusch neben mir zog meine Aufmerksamkeit an sich und ich betrachtete eine mich verwirrende Situation. Das Geräusch kam von dem Reißverschluss der leuchtend roten Jacke meines Bruders, der angezogen mit Mütze und Schuhen vor mir im Flur stand. Neben ihm unsere Mutter, welche nochmal an seiner Mütze rumzog bis sie ihres Erachtens nach perfekt saß. Hinter ihm tauchte plötzlich unser Vater auf, der nach zwei Koffern griff und sie hinaus trug. "Sag deiner Schwester Tschüss Taeyong," meinte unsere Mutter und mein Bruder schaute zu mir hinüber. "Taeyongi..wohin gehst du?" Fragte ich den älteren verständnislos. Ohne auf meine Frage weiter einzugehen nahm er mich in den Arm, drückte mich und sagte noch ein letztes 'Tschüss Taemin'. Dann ging er zusammen mit Eomma und Appa aus der Tür und fuhr weg. Ich drehte mich wieder zum Spiegel hin und mein Grinsen war verschwunden, ab da lächelte ich nicht mehr, denn es war der Tag an dem mein Bruder von uns wegging um Trainee zu werden. "Aber es schneit doch," flüsterte ich emotionslos gegen mein Spiegelbild und ab diesem Moment veränderte sich meine Sichtweise. Auf die Welt, ihre Menschen und meinen Bruder. Denn er ließ mich allein, ohne Erklärung, einfach stehen, mit keiner Antwort.

Es kam kein darauf folgender Tag mehr, an dem ich schon mit Freude erwachte, an dem ich mit Vorfreude auf die bevorstehenden Erlebnisse gefüllt war. Bis jetzt. Ich stand vor dem großen Spiegel hier an der Rezeption und lächelte, grinste fast schon. Das tat ich schon seit heute Morgen, was mir unverständlich vorkam. Ich überlegte lange wieso das so war, weshalb ich zufrieden oder situationsbedingt glücklich war. Eine Antwort fand ich jedoch nicht.

"Taemin!" Erklang es genervt hinter mir und ich drehte mich um. "Mh?" Murmelte ich leise vor mich hin als unser Manager hektisch, mit schnellen Schritten, in meine Richtung kam. "Einige fehlen noch und Taeyong ist wie vom Erdboden verschluckt...bitte sorge dafür, dass in einer Stunde alle Abholbereit und mit ihrem Gepäck am Ausgang stehen." Nickend signalisierte ich ihm, alles verstanden zu haben und machte mich sobald schon auf den Weg zu den Jungs. Die Stufen ging ich geschwind hinauf, als mir im Flur auch schon Mark und Jaehyun entgegen kamen. Demonstrativ stellte ich mich den beiden in den Weg, signalisierte ihnen anzuhalten und zeigte in Richtung ihrer Zimmer. "Ihr sollt in genau 45 Minuten fertig sein und unten am Ausgang warten," erklärte ich ihnen und musste feststellen, dass ich mich nicht wirklich unter Kontrolle hatte. Jedenfalls nicht so wie im Normalfall. Meine Blicke landeten immer wieder auf den blonden älteren vor mir und ich fühlte mich wie ferngesteuert.

Wie von jemandem befohlen worden zu sein, nett mit ihnen umzugehen, ihnen nicht die kalte emotionslose Art darzubieten, wie ich es sonst immer tat. Ihnen eine Seite von mir zu offenbaren, von welcher ich nicht einmal selbst wusste, welche diese war. Ob sie geduldig oder laut war, verständnisvoll oder eifersüchtig, ich wusste es nicht, denn ich kannte diese Seite von mir nicht. Sie war mir fremd.

⁰³ BROTHERS LITTLE SISTER | nctWo Geschichten leben. Entdecke jetzt