24. Vergebung

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Es war schwarz. Alles um ihn herum war schwarz und still. Eigentlich hätte er gedacht, dass er nichts mehr spürte. Aber er fühlte. Er fühlte Angst.

Wo war er? Und vor allem, wieso dachte er noch? Kurze Panik überkam ihn – war das die Hölle? Eigentlich war Severus Snape kein gläubiger Mensch, aber nach dem Tod mussten die körperlosen Seelen doch irgendwohin entfliehen? Nur wohin?

Sein Verstand funktionierte ohne Einschränkung. Es schien, als hätte er jegliches Zeitgefühl verloren, denn auch wenn er versuchte krampfhaft zu erahnen, was nach dem Todesfluch geschehen war, so hatte er keine Ahnung, wie lange sein Selbstmord her war.

Er war von seinem eigenen Fluch gegen die Mauern des Bootshauses geprallt und hatte augenblicklich das Bewusstsein verloren. Alles ging so schnell, die Sekunden flogen in Zeitlupe an ihm vorbei, bis es schwarz wurde. Er wusste nicht, ob er seine Augen offen hatte oder ob sie geschlossen waren. Fakt war, er verspürte Angst, die mittlerweile in Panik überging. Wenn er nun für immer hier bleiben müsse? Mit vollem Verstand und ohne etwas zu sehen, zu hören, oder gar zu spüren, außer Angst?

Ohne Vorwarnung zuckte er plötzlich zusammen. Ein Schrei hallte durch die Dunkelheit. Es war ein schriller, schmerzender Ton, der ihn erstarren ließ. Für einen kurzen Moment stürzte sich ein unglaublicher Druck auf seine Brust, doch er verschwand sogleich wieder und ließ ihn schwer atmend keuchen.

Stille.

Plötzlich hörte er den Klang von Wellen, nein, ein Rauschen von Wasser, erreichte seine Ohren und ließ ihn merkwürdigerweise ruhiger werden. Er kannte dieses Geräusch. Es hatte sich tief in sein Gehirn eingebrannt.

Ein Geruch von frischem Gras und warmer Sommerluft zog in seine Nase und berauschte seine Sinne. Ja, er kannte diesen Geruch. Den Geruch von Sonne, Sommer und einem lauen Lüftchen, das seine schwarzen Haare durcheinanderwirbelte.

Und dann, öffnete er seine Augen. Es war keine bewusste Reaktion, eigentlich hatte er gedacht, dass seine Augen die ganze Zeit offen gewesen waren, doch erst jetzt wurde es langsam hell um ihn herum. Die Dunkelheit verschwand und damit auch die Panik, die ihn kurzzeitig gelähmt hatte.
Das Erste, was er sah, war der See. Der See, in der Nähe von Cokeworth, Spinner's End. Ihr See.
Schluckend sah er auf den Boden. Er stand inmitten einer wunderschönen Blumenwiese, wenige Meter weiter befand sich das Ufer des Sees, in dem er oft baden gewesen war. Gänsehaut überkam ihn. Er war seit über 30 Jahren nicht mehr hier gewesen und doch kam ihm alles so vertraut vor, als wäre es gestern gewesen. Aber auch wenn seine Umgebung Umrisse angenommen hatte, erschien sie ihm unwirklich. Sie leuchtete in grellen, satten Farben, stärker, als er es in Erinnerung hatte. Er wusste, wo er war und dass das hier nicht die reelle Welt war. Aber was suchte er hier?

Kurz blickte er auf seine Füße, an seinen Beinen hoch und auf seine Arme. Er trug eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt. Seine Füße waren nackt und er spürte den warmen Grasboden unter ihnen. Doch auch, wenn er sich hier auskannte und wusste, wo er war, wollte er sich nicht von der Stelle bewegen. Er starrte auf den See und versuchte schmerzlich die Erinnerungen zu verdrängen, die gemeinsamen Nachmittage, die sie hier verbracht hatten. Stunden. Zusammen.

Und er war glücklich gewesen. Pures Glück durchströmte ihn, ließ ihn erzittern und ließ seine Mundwinkel in die Höhe schnellen. Er lächelte. Aber nicht gezwungen oder auf Kommando, sondern weil er nicht anders konnte, als zu lächeln und dieses Gefühl in sich aufzusaugen.

„Severus.", hörte er eine bekannte Stimme rufen und ruckartig drehte der alte Tränkemeister sich um. Wenige Meter entfernt, unter einem Baum, stand sie. Fassungslos blickte Severus auf Lily Evans, seine Lily, im Alter von 18 Jahren.

Ein unglaublich, intensiver Schmerz durchzuckte ihn und ließ das Gefühl von Glück verschwinden. Trauer klammerte sich an sein schmerzendes Herz und zitternd presste er die Hand auf seinen Mund.

„Lily.", flüsterte er entgeistert, starrte auf das junge Mädchen und schüttelte stumm seinen Kopf. Er wusste, dass diese Begegnung nicht real war. Lily war tot. Lily existierte nicht mehr. Er musste träumen. Aber dieser Traum fühlte sich anders an, als alle bisherigen Träume, die er über seine längst vergangene Liebe gehabt hatte. Er fühlte sich deutlich realer an.

Lächelnd schritt das junge Mädchen auf ihn zu. Sie trug ein sommerliches Blumenkleid und ihre nackten Füße schmiegten sich lautlos an den grasbewachsenen Boden. Doch auch wenn ihm dieser Anblick schon die Sprache verschlug, so konnte er sich nicht von ihrem sommersprossigen Gesicht losreißen. Ihre rötlich, glänzenden Haare leuchteten im Schein der Sonne und stellten einen krassen Kontrast zu ihrem ebenmäßigen, jungen Gesicht dar. Doch auch nicht das, war es, was seinen Herzschlag für einen Moment aussetzen ließ. Es waren ihre Augen. Ihre leuchtend, grünen Augen, die ihn mit einer Liebe fixierten, die er nie wieder in den Augen einer anderen Person erblickt hatte, wenn sie ihn anschauten. Nein, das stimmte nicht ganz. Dieser Blick lag auch in Hermines Augen. Ein Blick voller Liebe und Vertrauen, ohne das er wusste, womit er ihn verdient hatte.

„Du hast alle Liebe der Welt verdient, Sev.", hauchte Lily leise, als sie wenige Meter vor ihm zum Stehen kam und Snape sich nicht gerührt hatte. Er wollte sie am liebsten berühren, durch ihre Haare streichen, ihren Duft einsaugen und seinen Blick nie wieder von ihr abwenden.

„Wie ist das möglich?", flüsterte er leise und schluckte merklich. „Du bist tot, du bist..."

„Ich bin immer bei dir, Sev.", hauchte Lily als Antwort und lächelte liebevoll. „Ich war immer bei dir."

Heftig atmend ballte Snape seine Hände zu Fäusten und versuchte den Kloß in seinem Hals zu ignorieren, der seine Atemwege versperrte und ein Brennen in seinen Augen verursachte.

„Nicht weinen, Sev.", lächelte Lily sanft, schritt auf ihn zu und legte ihre warme Hand auf seine glühende Wange. Sie strich einige Tränen mit ihrer Daumenspitze weg und zitternd schloss Snape seine Augen, um das Gefühl für immer in Erinnerung zu behalten.

„Wieso bist du hier? Wo bin ich?", wisperte er fast lautlos, da die Berührung ihrer warmen Hand ihm die Sprache verschlug. Als er seine Augen wieder öffnete, war Lily so dicht an ihn herangetreten, dass er ihren warmen Atem beinahe an seiner Halsbeuge spüren konnte. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. So nahe war er seiner großen Liebe nie gekommen und ein kleiner Teil in seinem Unterbewusstsein versuchte ihm weiszumachen, dass das hier alles surreal sein musste. Doch es fühlte sich nicht so an.

Und als er ihren Blick mit seinen Augen suchte, spürte er plötzlich all den Schmerz, den er die ganzen Jahre ignoriert hatte, die Schuldgefühle, die er nie vergessen konnte und die ihn Tag für Tag zerrissen und die unerwiderte Liebe, die ihn beinahe zerstört hatte. Er spürte die tiefe Traurigkeit, die Bestandteil seines Alltags war, den puren Hass, wenn er an James Potter dachte, an den Mann, der Lily nicht beschützen konnte und einen unendlich großen Selbsthass, der ihn von den Füßen riss.

Schluchzend fiel Severus Snape auf die Knie und legte seinen Kopf an Lilys Brust. Er konnte ihren Herzschlag spüren, während ihm Tränen über das Gesicht rannen und ihre zarten Hände in seinen Haaren, die ihm beruhigend über den Kopf strichen.

„Dich trifft keine Schuld, Sev.", flüsterte Lily eindringlich, doch er spürte den tiefen Riss, der in seinem Herz brannte und die dunkle Schlucht, die alles andere unwichtig erscheinen ließ. Das einzige, was übrig blieb, war der Hass. Ein undefinierbarer Hass auf sich selbst, der alles andere überlagerte.
Zitternd hob er seinen Kopf und begegnete dem tiefen Blick ihrer leuchtend, grünen Augen.

„Es tut mir leid. Es tut mir leid, Lily.", schluchzte er bebend und umfasste sanft ihre Handgelenke. „Ich habe dich nicht beschützen könne. Ich hätte dich beschützen müssen. Ich musste dich beschützen, aber ich habe versagt, ich konnte dich nicht beschützen, ich bin schuld, dass du gestorben bist."

Seine Stimme zitterte unkontrolliert, doch Lily lächelte kopfschüttelnd und bedeutete ihm, still zu sein. Sie sah zu ihm herunter und versuchte all die Liebe, die sie verspürte, in diesen einzigen Blick zu legen.

„Nein, Severus. Dich trifft keine Schuld, Du musst aufhören, dich selbst zu hassen. Niemand konnte ihn aufhalten. Wir haben uns auf die falsche Person verlassen.", sagte sie leise und in ihm breitete sich plötzliche Wärme aus. „Du hast alles richtig gemacht. Du hast Harry beschützt, Severus. Du hast meinen Jungen beschützt."

Den letzten Satz sprach sie mit voller Dankbarkeit aus.

„Aber ich hätte dich beschützen müssen. Ich hätte bei dir sein müssen. Ich habe den dunklen Lord gebeten, dich zu verschonen, aber ich habe versagt. Lily, ich hätte dich beschützen müssen."

Lächelnd schaute sie in seine tieftraurigen Augen und auf einmal verließ Snape all die Last, die die ganzen Jahre auf seinen Schultern gelegen hatte. Plötzlich konnte er wieder atmen. Frei atmen.

„Ich verzeihe dir, Severus. Ich habe dir schon immer verziehen. Du darfst nicht so streng mit dir sein, du musst endlich loslassen und leben. Lass los, Severus.", hauchte Lily sanft, doch er umklammerte verzweifelt ihre Handgelenke.

„Nein, geh nicht!", rief er schluckend, immer noch vor ihr kniend und energisch mit dem Kopf schüttelnd. „Du darfst mich nicht verlassen, bitte! Bitte nicht, Lily!"

„Ich habe dich nie verlassen, Sev.", antwortete sie lächelnd. „Ich bin immer hier drin."

Sie zog sanft ihren Arm aus seinem Griff und legte ihre Hand flach auf seine Brust. Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann und er tief ein und ausatmete, fast als hätte er Angst, es würde ihm sonst aus der Brust springen.

„Aber ich sehe dich nicht. Ich höre dich nicht.", sagte er hoffnungslos. „Ich will nicht, dass du mich verlässt. Bitte, Lily."

Lily legte langsam ihren Kopf schief und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.

„Du musst loslassen, Severus. Sonst kannst du nicht anfangen zu leben."

Ihre Stimme klang so wunderbar in seinen Ohren und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er nicht tot war. Nein, er war nicht tot, er war nicht gestorben, er hatte noch eine Chance, zurückzukehren.

Aber wollte er das überhaupt? Wollte er wieder zurück? In sein altes Leben?

„Du hast ein neues Leben angefangen.", beantwortete Lily seine Fragen.

Und plötzlich tauchte Hermines Gesicht vor seinen Augen auf. Ihre bernsteinfarbenen Augen, ihr ehrliches Lachen, ihre krausen, braunen Haare und ihre zierliche Figur, die sich nackt an ihn kuschelt und ihn fest umklammerte. Er verspürte eine Wärme, die seinen Körper durchflutete und schloss schluckend seine Augen, um das Gefühl zu definieren, dass er für sie empfand.

„Liebe.", hauchte Lily leise. „Du liebst Sie, Sev."

Doch er schüttelte energisch seinen Kopf, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass er jemals einen Menschen so lieben würde, wie er Lily liebte.

„Ich weiß, Sev.", wisperte sie nickend.

Er spürte wieder ihre warme Hand auf seiner Wange und öffnete herzklopfend seine Augen.

„Ich liebe dich, Lily.", flüsterte er gequält, weil er wusste, dass sie seine Liebe nicht erwiderte.

„Ich liebe dich auch, Sev. Ich habe dich immer geliebt."

Dieser Satz ließ ihn aufhorchen und sofort nahm er ihre kleinen, zärtlichen Hände in die Seine, um dann sanft über ihr Handgelenk zu streichen.

„Du musst loslassen.", wisperte Lily erneut. „Ich weiß, dass du mich liebst, Sev. Aber ich bin nicht mehr da, ich bin nur hier."

Wieder glitt ihre Hand auf sein Herz.

„Und ich werde immer dort bleiben. Ich will, dass du glücklich wirst."

„Aber ich möchte mit dir glücklich sein, ich möchte hierbleiben, bitte, Lily!", sagte Snape bestimmt und nickte schnell. „Ich will bei dir bleiben."

„Sie braucht dich, Severus. Hermine braucht dich."

Es war das erste Mal, dass Lily ihren Namen aussprach und es klang merkwürdig fremd aus ihrem Mund. Er liebte Lily. Aus tiefstem Herzen. Aber gleichzeitig verspürte er eine tiefe Verbundenheit zu Hermine. Die Frau, die seine Liebe erwiderte. Er erinnerte sich, was er zu Albus gesagt hatte. Dass sie ihn brauchte. Er wollte sie beschützen, ihr helfen, weiterzuleben. Mit ihr gemeinsam leben.

„Ich werde auf dich warten, Severus. Das verspreche ich dir.", sagte Lily lächelnd. Er suchte ihren Blick und seine Mundwinkel zuckten unweigerlich in die Höhe.

„Du bist alt geworden, Severus.", grinste sie schelmisch und strich ihm einige, schwarze Strähnen aus dem Gesicht.

„Und du bist wunderschön.", murmelte er, beinahe lautlos, als er seine Hand hob und sie auf ihre sommersprossige Wange legte. Kurz schloss Lily ihre Augen und schmiegte sich mit ihrer Wange leicht an seine raue, starke Hand.

Ehe er einordnen konnte, was genau passierte, wurde es plötzlich dunkler um ihn herum und einige Wolken verdeckten die helle Sonne, die hoch am Himmel stand. Lilys Ausdruck veränderte sich plötzlich. Sie blickte nach oben und nahm seine Hand von ihrer Wange.

„Es ist so weit.", sagte sie ruhig. „Du musst wieder zurück."

Ein Schmerz des Verlustes durchzuckte Snape, doch auch wenn er Angst hatte, sie wieder zu verlassen, spürte er die Freude, Hermine in die Augen zu sehen und ihr zu sagen, was er für sie empfand.

Es wurde immer dunkler um ihn herum und hastig stand der alte Tränkemeister auf. Lily war nun ein wenig kleiner als er. Ihr Kopf ging ihm fast bis zu den Schultern.

„Du wirst auf mich warten?", fragte er Lily zweifelnd und sie nickte ernst.

„Ich werde auf dich warten."

Er merkte, wie er die Kontrolle über seine Glieder verlor und die Dunkelheit seine Umgebung schwarz werden ließ.

„Ich liebe dich, Lily", hauchte er zärtlich. Das letzte was er sah, war ihr lächelnder Gesichtsausdruck und ihre grünen, leuchtenden Augen, die ihn liebevoll ansahen.

Und dann, verlor er das Bewusstsein.



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