Kapitel 4 - Titus

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Ich habe meinen Onkel immer für vernünftig gehalten. Wir hatten stets ein gutes Verhältnis vor dem Tod meines Vaters, was zum großen Teil der Tatsache zu verdanken war, dass Korbinian nie auf den Thron wollte. Als es an meinen Prozess ging unterstützte er mich, wie es sonst nur mein Vater gekonnt hätte. Seine Hilfe war nie Ausdruck davon, dass er an meine Unschuld glaubte, sondern Zeichen dafür, dass die Familie, dass ich ihm wichtig war.

Es ist lange her, dass er mich respektiert hat oder dass wir miteinander im Gespräch waren. Meine Verurteilung hat auch ihm den letzten Glauben in mich genommen. Und doch habe ich geglaubt, dass er sich seine Güte, das Unkonventionelle behalten hat. Dass ihm das Sein wichtiger ist als der Schein. Doch ich habe mich geirrt.

Es ist wie ein Schlag ins Gesicht, als er diese neue Hofdame als seine Tischdame am Kopfende des Tisches platziert. Ich beobachte es fassungslos von der Empore aus. Diese Frauen, die nach Anerkennung und Reichtum lechzen, nach einer vorteilhaften Heirat und einem Status. Die sich instrumentalisieren lassen, egal von wem, egal für was, solange es ihre Stellung hebt.

Ich beobachte die neue Hofdame. Eine Frau wie sie hat im Prozess gegen mich ausgesagt. Eine Frau wie sie hat mein Leben zerstört. Und mein Onkel wählt sie sich zur Tischdame und lässt sich von ihr umschmeicheln!

Weder Ernestine noch Henrietta sind mir sympathisch. Die ältere strahlte schon immer eine Verbissenheit aus, eine Versessenheit, etwas Besonderes zu sein. Selbst ihre augenfällige Schönheit kann nicht über ihre kalte, arrogante Art hinwegtäuschen. Henrietta hingegen kennt keine schlechte Laune. Mochte ich sie anfangs noch, so merkte ich schnell, dass sie sich in ihrer Meinung sehr schnell lenken lässt. Sie glaubte das, was man ihr erzählte. Ich war für sie von Anfang an der Verbrecher, ihr Verstand war nicht schlau genug, um dieses Urteil jemals zu hinterfragen.

Ich weiß nicht, warum ich auf die Empore gekommen bin, verborgen vor allen Augen, so wie immer. Vielleicht, weil sich die Möglichkeit bot, etwas Neues zu sehen. Jemand Neues. Doch die Abwechslung, die mir der Anblick der neuen Hofdame bietet, ist nicht wert, wie ich mich über sie aufrege. Ich hätte es lassen sollen. Ich kam mit der Annahme, schlimmer könne es nicht werden. Nicht schlimmer als Ernestine und Henrietta. Doch ich habe mich getäuscht. Diese Frau – durchschnittlich groß und nicht einmal außergewöhnlich schön oder mit einer besonderen Ausstrahlung – bringt es trotz mangelnder Reize fertig, meinen Onkel um den kleinen Finger zu wickeln. Wie manipulativ muss ein Mensch sein, um seine Prinzipien über den Haufen zu werfen?

Innerlich vor Wut kochend verlasse ich die Empore, renne fast durch die endlos langen Gänge dieses Gemäuers. Ich habe es so satt, von meiner Verzweiflung getrieben zu werden. Seit Jahren versuche ich, mich mit meinem Schicksal abzufinden, zu akzeptieren, dass meine Hoffnungen vergeblich sind und mein Leben von nun an aus einer Parallelexistenz in diesem Palast bestehen wird. Ein Leben, in dem ich noch unsichtbarer zu sein habe als ein Bediensteter, um mir das Recht auf mein Zuhause zu bewahren. Und manchmal scheint es sogar so, als hätte ich mich tatsächlich damit abgefunden. Immer seltener treibt mich meine Hoffnung oder meine Verzweiflung in die Bibliothek, wohin ich auch nun unterwegs bin. Immer seltener suche ich nach Hinweisen, von denen ich weiß, dass sie existieren müssen. Inzwischen hoffe ich nicht mehr auf einen Beweis meiner Unschuld, sondern darauf, existieren zu können, ohne dass dieser Verrat mich so sehr schmerzt. Doch immer wieder wird mir meine wachsende Gleichgültigkeit zunichte gemacht. Heute von ihr.

Den Hass, den ich gegen diese neue Hofdame hege, nimmt mir fast den Atem. Sie neben meinem Onkel zu sehen, als seine Tischdame, als den Menschen, der ihn zum Lachen bringt und vermutlich in irgendeiner Weise seine richtige Familie ersetzt, schmerzt fast körperlich. Ich komme am Rosensalon vorbei und nehme nebenbei wahr, wie eine neue Leinwand auf den Rahmen gespannt wird. Und obwohl es mir die ganze Zeit schon irgendwie klar war, tritt die volle Erkenntnis erst jetzt ein. Sie wird nicht wieder verschwinden. Sie wird hierbleiben und alle manipulieren, vielleicht auch die wenigen Menschen, die mich nicht als verlottertes Tier betrachten. Vielleicht auch meinen einzigen und letzten Freund und Verbündeten. Denn diese Leinwand ist für sie. Bald wird sie manierlich im Rosensalon sitzen und es als das Größte empfinden, bald ihr eigenes durchschnittliches Gesicht von einem Portrait in der Galerie der Damen auf sich hinunterlächeln zu sehen. Das Portrait wird offiziell ihren Status bestätigen, der anschließende Ball wird sie allen gegenüber, die am Hof leben, einführen und danach wird sie nicht mehr gehen. Eine Dame, die sich nicht ignorieren lässt. Schon eine Frau wie Theodora konnte mein Leben ruinieren. Um wie viel mehr wird sie es dann nicht können.

Meine Verzweiflung und blinde Wut lässt mich leicht taumeln. Ich stoße kraftlos das Portal zur Bibliothek auf, streife wie ein gehetztes Tier durch die Regale, immer weiter, immer weiter. Zuerst treibt mich meine Wut, dann meine Verzweiflung und als schließlich nur noch Schmerz übrig ist, sacke ich an einem der vielen hundert Regalen zusammen und fange an zu schluchzen.

„Warum nicht ein Hinweis", wimmere ich vor mich hin. Und dann schreie ich es hinaus. „Warum nicht ein Hinweis!! Warum bist du zu feige, Adalmar?!" Doch der Bibliothekar lässt sich nicht sehen. Wie so oft. Wie immer.

Und ich bleibe allein hier zurück, zusammengesackt und heulend. Wie so oft. Wie immer.


Die HofdameWhere stories live. Discover now