Kapitel 11 - Martha

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Henna hat mich an der Hand genommen und zieht mich durch die Gänge des Schlosses. Mittlerweile kenne ich die wichtigsten Wege, zum Speisesaal, zu meinem Zimmer, aber auch zu den Galerien und dem kleinen Ballsaal. An diesen Orten habe ich die letzten Tage die meiste Zeit verbracht. Im kleinen Ballsaal wurde ich mit Tanzschritten gequält, in der Galerie der Herren und der Damen mit den wichtigsten Gesichtern des Hochadels.

Ich gebe mir wirklich Mühe, mich einzufinden. Nicht, weil mir meine Stellung irgendetwas bedeutet, sondern weil ich unauffällig bleiben möchte und zudem meine Schwestern nicht blamieren will. Doch ich bin kein Talent in der höfischen Kultur. Während das Tanzen mir langsam in Fleisch und Blut übergeht und ich nicht mehr die Sorge haben muss, dass ich meinem Partner bei dem Ball morgen auf die Füße trete, ist das größere Problem, dass ich die Person, mit der ich tanzen werde, vermutlich nicht beim Namen werde nennen können. Daran können keine Portraits der Welt etwas ändern.

Esther hat das schließlich eingesehen. Ohne viel Kritik – was ich ihr wirklich hoch anrechne – hatte sie die Persönlichkeiten aus meinem Lehrplan verbannt und sich darauf verlegt, mir allgemeine Titel und Anreden näher zu bringen. Sollte mich also der Baron von Ackersleben zum Tanzen auffordern, würde ich mit einem freundlichen „Durchlaucht" alles richtig machen. Meine jüngere Schwester sieht das jedoch ganz anders. Sie glaubt fest an das Gute im Menschen und ist überzeugt, dass ich bis morgen Adelsexpertin werde. Und da ich sie nicht enttäuschen will und zudem die Chance sehe, meinem geplanten Unterricht zu entfliehen und noch einmal durchatmen zu können, bevor feierlich mein Portrait enthüllt wird, lasse ich mich von ihr mit unbekanntem Ziel durch den Palast führen.

Wir sind eine ganze Weile unterwegs, ehe Henna vor einer großen, massiven, doppelflügeligen Tür aus dunklem Holz stehenbleibt. Ich halte den Atem an. Es ist eher ein Portal, welches über und über bedeckt ist von geschnitzten Figuren und Fabelwesen. Es sind keine friedlichen Szenen, sondern Bilder voller Bewegung und Energie. Relativ weit oben entdecke ich ein buckelndes Einhorn, welches einen Ritter samt seiner Rüstung mit dem Horn aufspießt und etwa auf Augenhöhe schlängelt sich ein gewaltiger, geschuppter Drache, der mit seinem Feueratem eine reiche Ernte versengt.

„Das ist...", setze ich an, finde aber nicht die passenden Worte. Henna nickt feinfühlig. „Ich weiß, was du meinst. Es ist so wunderschön und schrecklich zugleich. Ich könnte diese Tür stundenlang anschauen. Aber", sie zwinkert mir zu, „wir sind ja hier, weil wir eine Mission haben." Ich seufze. „Hältst du mich für so hoffnungslos, dass du es schon als Mission bezeichnen musst?" Meine Schwester lacht. „Quatsch. Ich bin überaus sicher, dass wir dich für den Ball morgen gut instruiert bekommen, egal was Ernestine sagt."

Mit diesen Worten stemmt sie sich gegen den rechten Flügel der Tür und eröffnet den Blick auf eine riesige, imposante Bibliothek. Einen Augenblick lang sauge ich einfach nur den Anblick in mich auf. Dunkle Regale aus massivem Holz strecken sich der Decke entgegen, die prunkvoll mit biblischen Szenen oder Figuren bemalt ist. Ich erkenne unter anderem Mose mit den zehn Geboten, eine düstere Darstellung des Jüngsten Gerichtes und die Abbildung der vier Evangelisten. Der Raum wird erleuchtet von Kronleuchtern und Kandelabern, die ihr Kerzenlicht in alle verborgenen Winkel werfen, denn die Fenster sind zum Schutz der Bücher verhangen. Dicke, rote Teppiche führen zwischen den Regalen hindurch, hin zu einzelnen Vitrinen oder zu leicht verborgenen Wendeltreppen, die auf eine, den Raum umgreifende Empore führen. Die Luft ist leicht stickig durch die Kerzen und einen leichten Staubfilm, der sich überall niedergeschlagen hat, es riecht nach altem Papier.

„Und, wie findest du es?", fragt Henna flüsternd. „Es ist wundervoll", flüstere ich zurück und bekomme ein Nicken als Bestätigung. „Manchmal", meint sie, „bin ich furchtbar traurig, dass ich in meinem ganzen Leben vermutlich nicht ein Buch davon werde lesen können." Ich murmele eine Zustimmung, ganz so, als würde ich dieses Bedauern teilen.

Die HofdameWhere stories live. Discover now