Kapitel 10 - Titus

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Mir schwirrt der Kopf. Ich löse mein Ohr von dem Schlüsselloch und verharre bedächtig in meiner hockenden Position. Mein Rücken schmerzt von der krummen Haltung, die ich beim Lauschen eingenommen habe. Aber das war es definitiv wert.

Es ist ein Glücksfall, dass mein kleiner Bruder nach wie vor Vaters Studierzimmer in Besitz nimmt. Als ich klein war, beherrschte dieser Raum meine Gedanken. Fast sehne ich mich nach der Zeit zurück, als es für einen zehnjährigen Jungen kein größeres Geheimnis gab als ein abgelegenes Zimmer, das niemand betreten durfte außer der König und die Menschen, die er zu sich bat.

Ich war schon immer neugierig und allen möglichen Geheimnissen auf der Spur. Meine Tage verbrachte ich damit, durch die Dienstbotengänge zu stromern, was meinen Hauslehrer verrückt machte, da er mich dort nicht finden konnte. Mit acht Jahren war ich dem damaligen Butler vom Osttrakt, einem steinalten Herrn mit schlurfendem Schritt, hinter ein Gemälde gefolgt und war überwältigt, dass sich hier ein zweites Schloss befand. Eines mit engen, schmutzigen Gängen. Aber auch eines, das mich zu jedem Ort bringen konnte, ohne entdeckt zu werden. An besagtem Tag, als ich unserem Butler folgte, verlief ich mich heillos. Nach Stunden fand mich der Kammerherr meines Vaters verheult und mit triefender Nase in der Nähe der Küche. Und obwohl ich aus diesem Erlebnis hätte lernen müssen, dauerte es keine vierundzwanzig Stunden, ehe ich wieder in diese geheimnisvolle Parallelwelt eintauchte. Ich lernte mich zurechtzufinden, meistens, indem ich kichernden Zofen und strengen Hausdamen hinterherschlich. Und irgendwann, als die Arbeit eines Königs mehr und mehr in mein Interesse rückte, begann ich, nach dem Weg und der Geheimtür zum Studierzimmer meines Vaters zu suchen. Es vergingen Monate, ehe ich mir eingestehen musste, dass es keinen zweiten verborgenen Zugang gab. Und es vergingen wiederum Wochen, bis ich entdeckte, dass es einen gegeben hatte.

Ich stieß zufällig auf die schmucklose Tür mitten im Gemäuer. Wieder einmal folgte ich den Bediensteten, dieses Mal zwei älteren Frauen aus der Wäschekammer. Ich hatte gerade beschlossen, mir eine andere Person zu suchen, der ich nachspionieren konnte, da die beiden pausenlos über ihre müden Füße klagten, da wurde die Stimme der älteren plötzlich leiser. Und sie ermahnte die andere, dass man ihr Gejammere bis in das Arbeitszimmer des Königs hören könnte, wenn sie nicht flüsterte. Wäre ich zu diesem Zeitpunkt erwachsen gewesen, so hätte ich diesen Satz als übertriebene Floskel abgetan, aber ich war ein Kind mit einer Mission und einer blühenden Fantasie. Zu meinem Glück, denn so stieß ich auf den verschlossenen Durchgang. Er ließ sich weder öffnen, noch konnte man durch das Schlüsselloch sehen. Aber er eignete sich ganz hervorragend zum Lauschen.

Später, als mein Vater mich mehr und mehr in die Regierung einbezog, sah ich sein Zimmer das erste Mal von innen. Und ich musste schmunzeln, denn ich war mir sicher, dass kaum einer von der zweiten Tür erfahren würde. Man hatte sie vor vielen Jahren übertapeziert.

Wüsste Eventus von dieser Gelegenheit, seine geheimsten Besprechungen zu belauschen, er wäre sofort in die spärlichste Besenkammer gezogen. Doch im Gegensatz zu mir war er immer schon vorbildlich, ambitioniert und darauf bedacht, allen zu gefallen. Und aus diesem Grund hätte er den Dienstbotengängen sofort den Rücken gekehrt, wenn er zufällig auf sie gestoßen wäre.

Ich massiere meinen Nacken und erhebe mich aus meiner hockenden Position. Ich habe lange hier gesessen und gewartet, dass sich etwas tut. Denn in einem Punkt bin ich ganz sicher gewesen: Mein Bruder würde noch heute von der neuen Hofdame Auskunft fordern. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Sie war später aufgetaucht, als ich gedacht hätte, aber sie tauchte auf. Seit heute Morgen hatte ich diesen Augenblick gleichsam gefürchtet und ersehnt. Ist sie nun intelligent? Oder doch nur vorlaut? Wird sie mir aus meinen verpackten Hinweisen einen Strick drehen? Wird sie sie verschweigen? Diese und weitere Fragen quälten mich. Und jetzt? Ich kann immer noch nicht ganz fassen, was ich gehört habe.

Langsam setze ich mich in Bewegung. Ich muss mich bewegen, um ordentlich nachdenken zu können. Etwas hat mich ganz besonders überrascht, denn ich habe dadurch eine neue Seite an ihr kennengelernt: Sie hat sich weder für noch gegen meine Version der Geschichte entschieden. Sie ist vorsichtig. Bisher kannte ich sie nur unhöflich und vorlaut, wenn man unsere wenigen Treffen überhaupt als Kennenlernen bezeichnen kann. Ihrer Abneigung nach mir gegenüber hätte ich eher darauf geschlossen, dass sie mich verpfeift. Aber da habe ich sie unterschätzt. Zugegebenermaßen sehr geschickt hat sie es eingefädelt, gewichtige Aussagen von mir mit einem oberflächlichen Beweggrund in Verbindung zu bringen. Eventus weiß nun über fast alles Bescheid, aber er deutet es falsch.

Ich kann nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf mein Gesicht stielt. Das alles wird nichts an meiner Situation ändern. Aber ich genieße es zu sehen, wie eine so kleine, zarte Person meinen Bruder zum Narren hält. Ich würde nicht sagen, dass ich sie leiden kann. Aber ich kann doch immerhin zugeben, dass ich sie nicht mehr ganz so sehr verachte, dass ich eine gewisse Hochachtung vor ihr hege. Gerade im Vergleich zu ihren Schwestern scheint sie mir relativ besonnen zu sein. Und was ihren Hang zur Manipulation angeht: Bei Eventus sind ihre Fähigkeiten diesbezüglich gut aufgehoben.

***

Sosehr das Gespräch zwischen diesem Fräulein und meinem Bruder mich im ersten Moment erheitert hat, umso unruhiger macht es mich die nächsten Tage. Ich habe mir falsche Hoffnungen gemacht, das merke ich schnell. Ich war so darauf bedacht, nicht zu viel von einer Person, einer Frau zu erwarten, die das Prestige des Hofes wahren soll, dass ich jeden kleinen Funken an Anstand, jede Sekunde, in der sie mich überrascht hat, völlig überbewertet habe.

In den vergangenen Tagen haben die Vorbereitungen für die Enthüllung ihres Portraits am morgigen Tag und die letzten Handgriffe für den Ball übermorgen ihren Höhepunkt erreicht. Und ich muss mit ansehen, wie die neue Hofdame vollkommen in ihren großartigen Aufgaben aufgeht und darüber vergisst, dass sie sich Gedanken über meine Unschuld machen könnte. Im Nachhinein fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich verfluche mich für meine Dummheit: Wieso hätte sie jemals Interesse daran aufbringen sollen, die Wahrheit herauszufinden? Wegen ein paar kryptischen Kommentaren von mir? Vermutlich hielt sie mich einfach nur für irre. Und ja, ich dachte sie hätte für meinen Bruder die Wahrheit sehr verdreht, aber höchstwahrscheinlich hat ihr hübscher kleiner Kopf gar nicht durchstiegen, was ich da erzählt habe. Warum hielt ich sie für schlau? Weil sie das erzählt, wovon sie womöglich überzeugt ist und mir diese Variante zugutekommt? Ich bin wirklich ein unverbesserlicher Narr!

Vor ein paar Tagen hatte ich noch Hoffnung in sie gesteckt und jetzt muss ich beobachten, wie sie bei ihrem Etikette-Unterricht Tanzschritte der einfachsten Gesellschaftstänze und Namen der bekanntesten Mitglieder des königlichen Hofes verwechselt. Alle zeigen sich geduldig mit ihr, Henrietta ist ermutigend und aufmunternd und Ernestine genießt es sichtlich, mit ihrem Wissen um sich zu werfen. Wäre diese Marlene nicht so hohlköpfig, könnte sie mir fast leidtun.

Ein Gutes hat die Enttäuschung über die junge Frau allerdings: Mein Kopf ist wieder klar geworden, ich bin fokussiert. Meine falschen Hoffnungen haben mir einmal mehr gezeigt, dass ich die Antwort selbst finden muss. Ich kann nicht darauf vertrauen, dass irgendjemand mir dabei hilft. Auch mein engster Freund nicht, die einzige Person, der ich noch vertraue. Niemand darf auf die Idee kommen, dass wir nach wie vor in Verbindung stehen.

Stunden um Stunden verbringe ich in der Bibliothek. Ich beginne den Tag mit Ehrgeiz und beende ihn mit Erschöpfung. Ich wälze Gesetzesbücher und suche nach versteckten Klauseln, ich schleiche mich sogar ins Archiv und lese die Verschriftlichung meines Urteils, Wort für Wort, immer wieder. Aber es kommt keine neue Erkenntnis. Ich kenne die Zeugen, ich kenne den Ablauf, ich kenne den Richterspruch. Vielleicht hätte es mir geholfen, meinem eigenen Prozess damals beizuwohnen. Aber die Bestattung meines Vaters war mir wichtiger.

Ich begebe mich sogar auf die Suche nach Adalmar, diesem verdammten Bibliothekar. Denn wenn es einen Hinweis gibt, dann weiß er, wo der steht. Aber irgendwann muss ich einsehen, dass ich ihn in diesen großen Hallen nicht finden werde. Da er jeden meiner Schritte kennt, werde ich ihm nur begegnen, wenn er es möchte. Und er möchte es nicht.


Die HofdameWhere stories live. Discover now