Kapitel 25 - Martha

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Eventus ist schlau. Er lässt einen Tag verstreichen, in dessen Verlauf die erneute Verhaftung von Prinz Titus die Runde macht. Er lässt einen weiteren Tag verstreichen, an dem er die Höflinge darüber spekulieren lässt, was wohl der Grund dafür sein könnte. Und am dritten Tag ruft er die wichtigsten und tratschfreudigsten Menschen in einer Versammlung zusammen und verkündet die Lüge über Esthers Vergewaltigung. In die Stunde, ich meine sogar in die Minute hinein, in der die Spannung am größten ist, platziert er wohlüberlegt, mit gewaltigen Worten und mitfühlenden Floskeln die große Neuigkeit, die das ganze Schloss in Aufruhr stürzen soll. Die Folgen: Ein Aufschrei an Empörung und Hass, der dem wahren Kronprinzen Titus entgegenschlägt. Eine Reaktion, die aus Sicht der Adligen jedes Urteil rechtfertigen würde, ohne Sinn für Regelungen und Normen.

Ich bin die Einzige, die keinerlei Emotionen oder Gedanken zeigt. Henna ist die Einzige, die sich dem sogenannten Opfer der Gräueltat, nämlich Esther zuwendet. Ohne große Worte hakt sie meine älteste Schwester unter und führt sie fort von diesem Chaos. Esthers stille Antwort auf diese Bekanntmachung ist für mich ein Spiegel ihres Inneren. Sie ist erst rot vor Scham, dann weiß angesichts ihrer zerstörten Ehre. Und doch trägt sie diese Lüge mit mehr Fassung, als ihr zustünde. Mit mehr Fassung als sie aufbringen könnte, wenn das alles Wirklichkeit wäre.

Henna lotst uns schweigend in ihre gelben Räumlichkeiten und platziert Esther auf ihr bequemstes Sofa. Sie selbst weiß erst nicht, wohin mit sich, dann jedoch setzt sie sich neben unsere Schwester, näher als sie es sich sonst vielleicht getraut hätte.

„Das ist ja furchtbar", beginnt sie schockiert und nimmt Esther in den Arm. Ich sehe, wie diese schluckt. Angesichts Hennas Anteilnahme kann auch sie ihr zweifellos aufkeimendes schlechtes Gewissen nicht mehr ganz ausblenden. Also tut sie das, was sie immer tut, wenn sie die Kontrolle über eine Situation behalten möchte: Sie belehrt. Esther räuspert sich und meint streng: „Nimm dich zusammen, Henrietta. Gerade in solch einem Moment muss eine Hofdame Stärke zeigen. Ich will nicht, dass du mich bemitleidest. Dieses Monster hat mich erniedrigt, aber nicht verändert. Ich bin immer noch ich selbst."

Ja, das ist sie wohl – sie selbst, wer auch immer das nach all den Jahren sein mag. Zumindest ist sie nicht mehr die Schwester, die ich einst kannte. Eine Schwester, die nach Höherem gestrebt hat auf eine ambitionierte, nach Glück strebende Weise, die an ihren eigenen Wert geglaubt hat. Jetzt hat sie sich selber verraten, sich den Launen und Intrigen eines anderen unterworfen und nach seinem Willen selbst erniedrigt.

Henna weiß nicht, wohin mit ihrer ganzen Fürsorge, während ich fast vor Zorn platze. Aber was immer ich auch gerne tun und sagen würde, ich kann es nicht vor Henna tun. Meine jüngere Schwester wüsste nichts anzufangen mit all den Informationen, Beschuldigungen und schlechten Gefühlen. Sie könnte nicht so schlecht von Esther denken, wie ich es inzwischen tue und fände sich in einem Konflikt wieder, für den sie keine Lösung kennt. Henna würde daran zerbrechen.

„Henrietta", spreche ich sie also an, so beherrscht, wie es mir momentan möglich ist. „Möchtest du Ernestine vielleicht einen Tee besorgen?" Froh über diesen Vorschlag und die Aussicht, etwas Nützliches zu tun zu haben, springt Henna auf. „Natürlich, ich werde gleich nach meiner Zofe klingeln." Ich schüttele den Kopf und gebe mich besorgt. „Nein, es ist besser, wenn du ihn selbst holst. Stell dir nur vor, dass das Personal auch gerade erfahren hat, was Ernestine widerfahren ist. Es ist sicherlich nicht hilfreich, wenn sie in ihrer ersten Verwirrung uns gegenübertreten müssen. Sie sollten die Zeit haben, ihre Gedanken zu sortieren und ihre Beherrschung wiederzuerlangen, bevor sie sich bei uns blicken lassen."

Meiner gutmütigen Schwester leuchtet diese Begründung natürlich ein und sie beeilt sich, höchst persönlich einen Tee zu besorgen. Kaum ist die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, atmet Esther auf. „Danke, Marlene. Es klingt vielleicht herzlos, aber ich kann ihre Güte jetzt einfach nicht ertragen. Es gibt Momente, da wäre man lieber für sich allein." Obwohl sie mir dankt und sich mal nicht herablassend zeigt, wird meine Wut nur noch mehr angestachelt. Sie hat nicht verdient, dass Henna sich um sie sorgt, hat nicht verdient, dass ihre jüngere Schwester immer noch gut von ihr denkt! Mein Zorn nimmt mir fast den Atem und obwohl ich es wohl besser sein lassen sollte, wächst in mir die Gewissheit, dass ich diesen Streit austragen muss. Ich weiß, dass ich Dinge offenbaren werde, die besser ungesagt bleiben sollten und ich weiß, dass nach dieser Konfrontation ein tiefer Keil zwischen uns stecken wird, der für Tage, Wochen, vermutlich sogar Monate dort verbleibt. Aber ich kann nicht so tun, als würde ich sie bemitleiden. Ich kann Dummheit heucheln, Naivität und weibliche Sprunghaftigkeit. Doch ich kann nicht so tun, als wüsste ich von nichts, wenn ich andauernd mit ihr in Kontakt stehe. Ich kann ihr Verbrechen nicht ignorieren.

Die HofdameTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon