Kapitel 6

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Nervös spielten meine Finger am Reißverschluss meiner Jacke herum. Zum Glück hatte ich die Bushaltestelle noch rechtzeitig erreicht. In den Ferien fuhren die Busse in dem Stadtteil, wo meine Oma wohnte, nur alle 20-30 Minuten. Hätte ich den Bus verpasst, wäre ich definitiv zu spät gekommen. Normalerweise brauchte ich von dort nur eine gute halbe Stunde bis ins Stadtzentrum, aber wie meine Oma schon vermutet hatte, stand der Bus im Stau. Durch die tausenden Baustellen, die sich quer durch die Stadt verteilten, kamen wir - wenn überhaupt - nur im Schritttempo vorwärts.
Jetzt nutzte ich die zusätzliche Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen, was wohl gleich passieren würde und um meine Nerven irgendwie zu beruhigen. Wahrscheinlich war ich noch nie so nervlich am Ende gewesen wie jetzt gerade. Noch nicht einmal das Zusammentreffen mit Thomas hatte mich so fertig gemacht. Lag aber vermutlich auch nur daran, dass es zufällig und nicht geplant war. Allerdings war das Treffen heute anders. Wer würde mich wohl da erwarten? War es Thomas? Oder doch sein Bodyguard? Oder beide? Verdammt, warum hatte ich mich nur auf den Weg gemacht? Das konnte doch kein gutes Ende nehmen. Bestimmt müsste ich irgendetwas unterzeichnen oder mich einverstanden erklären, dass nichts von dem Gespräch zwischen mir und Thomas an die Öffentlichkeit gelangen würde. Und falls doch, müsste ich mit juristischen Konsequenzen rechnen. Oder schlimmer: Sie bedrohten mich gleich und... Oh Gott, wahrscheinlich wussten sie schon längst, wo ich wohnte und beobachteten mich die ganze Zeit. Nein... nein, nein, nein, das konnte doch alles nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein. Mist, in was war ich da nur hineingeraten? Das musste ein schlechter Traum sein. Ein wirklich schlechter Traum...
Verzweiflung stieg in mir auf. Meine Muskeln versteiften sich und mein Atem wurde immer schneller. Leicht panisch sah ich mich immer wieder um und versuchte, einen möglichen Verfolger ausfindig zu machen. Doch alles was ich sah, waren ein paar verwirrte Gesichter der anderen Fahrgäste, die scheinbar meine kleine Panikattacke wahrgenommen hatten. Schnell drehte ich meinen Kopf wieder nach vorne und starrte auf die Rückenlehne meines Vordermannes.
Tief einatmen, Mila. So, und jetzt langsam wieder ausatmen. Gut so. Und jetzt noch einmal tief ein- und ausatmen. Na bitte, mein Puls beruhigte sich allmählich wieder und gab mir die Chance, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. In was hatte ich mich denn so hineingesteigert? Als ob die mich verfolgen und mir dann noch etwas antun würden... Meine Güte, Mila... Du warst doch nicht Teil eines Filmes über Spionage und Verfolgungsjagden mit dem FBI. So etwas gab es doch nur in Hollywood, wenn überhaupt. Das Meiste in diesen Filmen war eh nur ausgedacht und nicht real. Hoffte ich zumindest.
Außerdem... was hatte meine Oma gesagt? Irgendwo in der Nähe gäbe es eine Polizeistation. Und es wäre wohl immer jemand dort unterwegs. Theoretisch konnte mir also nicht gleich etwas passieren, oder? Oh man, warum gerade ich? Hätte Thomas nicht jemand anderen treffen und ihm oder ihr seine Probleme offenbaren können? Dann könnte ich jetzt wenigstens meine restlichen Ferientage noch genießen und würde nicht gleich die nächste Panikattacke bekommen.
Ich ließ einen kleinen Seufzer zu und hoffte, dass mich keiner mehr beachtete. In Momenten wie diesen wünschte ich mir oft nichts sehnlicher, als die Fähigkeit mich, wann immer ich wollte, unsichtbar machen zu können. Leider ging das nicht.

Immer noch sichtlich nervös blickte ich aus dem Busfenster. Mittlerweile kamen wir besser voran. Die schlimmsten Bau- und Staustellen hatten wir scheinbar schon passiert. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf die Uhrzeit. Dreiviertel elf. Noch 15 Minuten also.
An der nächsten Station stieg ich aus und lief zur Tubestation. Auf dem Weg dahin sah ich mich noch ein paar Mal um, jedoch nicht aus Angst, verfolgt zu werden. Vielmehr weil mir die Gegend so bekannt vorkam. Am Eingang zur U-Bahn las ich den Namen der Station: Leicester Square. Hier war ich doch gestern schon einmal. Und dann sah ich von Weitem das große Leuchtschild des Kinos, in dem gestern noch die Premiere von Maze Runner – Scorch Trials lief. Der Ort, an dem ich Thomas Brodie-Sangster das erste Mal getroffen hatte... Der Ort, der mich in diese Situation gebracht hatte. Ich bekam eine leichte Gänsehaut. Schnell lief ich die Treppen hinunter und hastete zum Bahnsteig, wo die Bahn gerade einfuhr. Da es bis zur Baker Street nicht mehr viele Stationen waren, entschied ich mich, während der kurzen Fahrt zu stehen. Mir blieb auch gar nichts anderes übrig. Alle Waggons waren rappel voll und trotzdem quetschten sich weiterhin noch Menschen in den Zug. Wie ich es hasste. Und da war es wieder. Das schwache Gefühl von ansteigender Klaustrophobie. Bei der Premiere konnte ich wenigstens noch auf Abstand zu den Menschenmassen gehen. Aber hier war ich von ihnen umzingelt. Alle möglichen Gespräche in den unterschiedlichsten Sprachen drangen an meine Ohren. Irgendwo in der Nähe fing ein Kind lauthals an zu schreien und brachte damit ein Weiteres zum Weinen. Als wäre das nicht schon genug gewesen, lag plötzlich ein widerlicher Mief in der Luft. Eine Mischung aus Schweiß, abgestandenem Zigarettenrauch und einer Duftwolke von penetrantem Damenparfüm. Am liebsten hätte ich mich sofort übergeben, aber zum Glück konnte ich mich noch rechtzeitig zurückhalten. Genau aus diesen Gründen mochte ich die öffentlichen Verkehrsmittel und Menschenansammlungen nicht. Ich hatte sie noch nie leiden können und diese Bahnfahrt bestätigte nur meine Abneigung.
Glücklicherweise war die nächste Station die Station, bei der ich aussteigen musste. So schnell es ging, und ohne Rücksicht auf Verluste, drängte ich mich aus dem Waggon und rannte die Treppenstufen hinaus ins Freie. Frische Luft! Endlich. Die Fahrt hatte zwar nicht einmal 10 Minuten gedauert, trotzdem hatte ich das Gefühl, als hätte ich seit Jahren nicht mehr richtig geatmet. Mich einmal im Kreis drehend, schaute ich mich um und suchte die Richtung, in die ich nun gehen musste. Ich entdeckte eine Polizeistation. Das musste die Polizeistation sein, die meine Oma gemeint hatte. Wachsam lief ich die Straße entlang, vorbei an der Polizeistation, und hielt die gesamte Zeit nach ungewöhnlichen oder auffälligen Menschen Ausschau. Mit jedem Schritt wuchs meine Anspannung immer weiter an. Als ich allerdings am genannten Treffpunkt ankam, hatte ich keine merkwürdig wirkende Person ausfindig machen können. Mit einem letzten Blick auf mein Handy versicherte ich mich, dass ich nicht zu spät war. Es war zwei Minuten vor elf. Ich steckte mein Handy zurück in meine Tasche und sah mich wieder um. Meine Oma hatte Recht behalten. Überall waren Menschen unterwegs. Sie eilten die Straßen entlang und hatten kaum ein Auge für mich. Einige telefonierten, andere unterhielten sich mit Kollegen und Freunden oder starrten konzentriert auf die Straße. Niemand schien zu bemerken, wie ich da ziemlich einsam und verloren vor dem Restaurant 'The Volunteer' stand und auf mein Schicksal wartete. Vielleicht war das aber auch ganz gut so. So bekam wenigstens niemand etwas von meiner immer größer werdenden Nervosität mit.
Die Minuten verstrichen und nichts passierte. Langsam aber sicher hatte ich das Gefühl, dass niemand kommen würde. Mittlerweile war es 10 Minuten nach elf. 'Okay Mila, du wartest jetzt noch 5 Minuten und dann fährst du wieder nach Hause', sagte ich mir selbst. Wahrscheinlich war ich total umsonst gekommen und hatte mir völlig unnötige Sorgen gemacht. Derjenige, der den Zettel in meine Tasche gesteckt hatte, lachte sich bestimmt in diesem Moment ins Fäustchen, dass ich den Schwachsinn geglaubt hatte. Warum war ich so gutgläubig und hatte den Worten meiner Oma vertraut? Thomas würde nicht auftauchen. Sie hatte sich getäuscht. Leider. Oder vielleicht auch nicht leider. Vielleicht war es ganz gut, dass ich ihn nicht mehr sehen musste. Oder seinen Bodyguard. Der konnte einem ganze schön Angst machen.

Irgendwie erleichtert aber auch gleichzeitig ein bisschen enttäuscht wollte ich mich gerade auf den Weg zurück zur U-Bahn Station machen, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte. Erschrocken drehte ich mich um und machte gleich unwillkürlich ein paar Schritte zurück, sodass ich beinahe gegen ein Straßenschild geknallt wäre. Vor mir stand Thomas' Bodyguard und blickte mich aus seinen kleinen dunklen Augen an. Zumindest vermutete ich, dass sie klein und dunkel waren, denn er trug eine große schwarze Sonnenbrille. Dennoch erkannte ich ihn. Es war derselbe Mann, der gestern mit Thomas geredet hatte und dann über meine Tasche 'gestolpert' war. Ich erkannte ihn an seiner Statue, seinen schwarzen Klamotten und der kurzgeschnittenen Frisur. Er war es. Keine Zweifel.
Langsam kam er auf mich zu und ich wollte noch einen Schritt zurück machen, aber plötzlich war hinter mir schon die relativ stark befahrene Straße, sodass ich ihm nicht mehr entfliehen konnte. Uns trennten nur noch knapp 20 cm voneinander und ich erkannte erst jetzt, wie groß und muskulös der Typ eigentlich war. Um sein Gesicht noch sehen zu können, musste ich meinen Blick ganz schön nach oben richten. Auf einmal beugte er sich leicht zu mir herunter und flüsterte mir, sodass ich es nur sehr schwer verstehen konnte, zu: „ Ich habe den Auftrag, dich hier abzuholen und zu einem der Sightseeing-Busse dort drüben zu bringen. Du wirst bereits erwartet." Dabei zeigte er mit seiner kräftigen Hand, die einem wahrscheinlich innerhalb von Sekunden das Genick hätte brechen können, zur anderen Straßenseite. Dort warteten vor einem der Eingänge zum Regent's Park um die fünf oder sechs Busse, die Touristen quer durch London vorbei an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten bringen sollten. Davor hatten sich schon etliche Menschen angesammelt, die alle unbedingt eine Tour machen wollten.
Mein Blick wanderte zurück zu Thomas' Bodyguard, der mir unauffällig andeutete, dass ich mich sofort dahin begeben sollte. Ich hatte keine andere Wahl. Zu fliehen wäre zu riskant gewesen. Ich wollte nicht wissen, was er mit mir gemacht hätte, wenn ich versucht hätte, wegzulaufen. Deshalb befolgte ich seine Anweisung und überquerte mit ihm die Straße. Auf der anderen Seite angekommen wollte ich mich schon zu den wartenden Touristen stellen, doch er stellte sich mir in den Weg und zeigt auf den letzten Bus, vor dem Keiner wartete. Verwirrt ging ich in die gezeigte Richtung. Was sollte ich da? Warum musste es unbedingt der letzte Bus sein? Waren da etwa schon aller Fahrgäste eingestiegen und warteten nur noch auf uns? Verdammt, warum ich? Ich bemerkte, wie meine Hände anfingen zu zittern und versteckte sie in der Jackentasche. Nur keine Angst zeigen. Leider konnte ich die aufkommende Panik nicht mehr wirklich gut unterdrücken. Thomas' Bodyguard schien es bemerkt zu haben, denn plötzlich meinte er: „Keine Sorge. Beruhige dich. Es wird nichts Schlimmes passieren." Tja, blöd nur, dass mich das nicht im Geringsten beruhigte. Wie auch? Womöglich lief ich geradezu in mein persönliches Verderben.
Vor dem Bus angekommen, zog der Typ einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Fahrzeugtür auf. Auffordernd trat er einen Schritt beiseite und wies mit seiner kräftigen Hand auf die Tür. Ich zögerte. Ich wollte da wirklich nicht einsteigen. Am liebsten hätte ich laut um Hilfe geschrien, aber ich war wie gelähmt und brachte keinen Ton heraus. Er sah mich eindringlich an. Widerwillig gaben meine Beine nach und ich betrat den Bus. Er folgte direkt hinter mir und zog die Fahrzeugtür hinter sich zu. Um ihm nicht zu nahe zu kommen, trat ich in den Gang des Busses und bemerkte entsetzt, dass er menschenleer war. Panisch drehte ich mich wieder zu ihm um. Blöderweise stand er genau so, dass ich keine Chance hatte, irgendwie zur Tür zu gelangen. Mein Fluchtweg war abgeschnitten.
Ich wollte ihn gerade anflehen, mir nichts zu tun und mich gehen zu lassen, als sich plötzlich eine mir wohl bekannte Stimme zu Wort meldete....
„Hallo Mila, vielen Dank, dass du gekommen bist...."

Do you trust me? (Thomas Brodie-Sangster FF)Where stories live. Discover now