Kapitel 2

1.4K 102 49
                                    

Obwohl es stockdunkel war, spürte Mika die Blicke der anderen auf sich. Am liebsten wollte er sich umdrehen, nach Hause rennen und sich verstecken, bis dieser Albtraum vorbei war. Doch das konnte er nicht. Er war schon jetzt der Feigling. Diesmal musste er mutig sein.

Langsam schlich er auf die Mauer zu. Aus der Nähe betrachtet ragte sie sich wie ein Riese gegen den Himmel auf. Mika musterte das Mauerstück, vor dem er stand. Sehr bröckelig und kaputt. Wenn nicht Jamie bereits an dieser Stelle hochgeklettert wäre, hätte er geschworen, dass die Mauer instabil war.

Vorsichtig setzte er seinen rechten Fuß in einen Spalt. Es gab nur wenig Halt.

»Hast du etwas Angst?«, rief ihm Tarik zu. Die anderen lachten.

Mikas Miene verfinsterte sich. Diesmal wollte er es allen beweisen. Dass er nicht der Spinner war, für den sie ihn hielten. Dass er mehr als nur ein Feigling war.

Er suchte nach einer Stelle, die ihm Halt zum Greifen bot und an der er nicht abrutschen würde. Da. Ein kleiner Spalt, wie gemacht für seine Hände.

Diesmal griff er entschlossen in den Spalt und drückte sich vom Boden ab.

Jetzt vorsichtig. Hand für Hand, Fuß für Fuß kletterte er die steile Wand hinauf. Kleine Steinchen bröckelten heraus und fielen an ihm vorbei in die Tiefe.

Bitte halte, flehte er in Gedanken. Bitte halte.

Er blickte nach oben. Noch etwa ein Meter. Das konnte er schaffen. Vielleicht zwei, drei Handgriffe noch. Zitternd drückte er sich hoch, Zentimeter für Zentimeter. Das Ziel war so nahe und kam doch nur in Zeitlupe näher.

Und dann hatte er es geschafft. Mit einem Ruck zog er sich hoch und legte sich erschöpft flach auf die Mauer. Er keuchte, seine Hände waren schweißnass. Dennoch lächelte er. Er hatte es geschafft. Er war tatsächlich oben angekommen, ohne sich zu blamieren.

»Was ist?«, rief Tarik von unten. Seine Stimme klang höhnisch. »Höhenangst?«

Bevor Mika etwas entgegnen konnte, mischte sich Jamie ein. »Still«, zischte er verärgert. »Wenn man uns erwischt ...«

Er musste den Satz nicht beenden. Sie alle wussten, was geschehen würde, auch wenn keiner von ihnen auch nur daran denken wollte. Alles würde schon gut werden.

Aber Tarik hatte recht. Er war noch nicht fertig. Die wohl größte Hürde stand Mika noch bevor.

Er blickte die andere Seite hinunter. Es ging tief hinab. Deutlich tiefer als er hochgeklettert war. Aus der Tiefe ragten Stacheln hervor, spitz wie Messerklingen. Die andere Seite des Grabens war mindestens drei Meter entfernt. Wie sollte er das schaffen?

Unten wurde die Gruppe ungeduldig. Sie warteten darauf, dass Mika endlich weitermachen würde. Aber Mika war wie gelähmt von Angst. Er hatte keine Höhenangst, aber das hier ... Trotzdem konnte er jetzt nicht einfach aufgeben. Dann war er wieder der Feigling und würde Tarik doch nur in seinem Glauben bestätigen. Nein. Er durfte nicht aufgeben. Er musste das hier durchziehen.

Mika atmete tief ein und aus. Ein. Und wieder aus. Ein. Aus. Sein rasender Puls verlangsamte sich. Seine Hände zitterten noch immer, doch das Zittern wurde weniger.

Komm schon, bleib cool, sprach er sich selber Mut zu.

»Mika«, rief Jamie zu ihm hoch. »Alles okay? Du musst das nicht machen, wenn du es nicht kannst.«

»Alles in Ordnung.« Hoffentlich hörte man seine Angst nicht, während er sprach. »Ich musste bloß ... die Lage einschätzen.« Jetzt oder nie. Er musste es tun.

Mika setzte sich auf, an den Rand der Mauer. Unter ihm ging es steil bergab. Ein falscher Schritt, ein falscher Griff und ... Er wollte gar nicht daran denken.

AußenseiterWhere stories live. Discover now