Kapitel 35

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Mika ließ die Frau zu Boden sacken. »Wann sind sie da?«

Toms starrte ihn finster an. »Sie sind schon da.«

Mika fluchte. Verdammt! Was sollten sie nun tun? Er wandte sich wieder der Frau zu, die wimmernd in der Ecke kauerte und mit großen Augen zu ihm aufblickte. Er musste wissen, was sie den Kindern gespritzt hatte.

»Reden Sie!«, schrie er sie an. »Reden Sie oder Sie kommen hier nicht mehr heraus.«

Die Frau wimmerte, hob schützend die Hände vor das Gesicht. »Ich habe nichts getan«, wimmerte sie.

Mika blickte aus der Tür. Von weit weg konnte er erste Schritte hören. Ihnen blieb keine Zeit mehr. »Was ist in den Spritzen?«

Die Frau wich seinem bohrenden Blick aus, hielt den Kopf gesenkt. »Ich weiß es selber nicht. Alles, was sie gesagt haben, ist, dass es den Kindern hilft.«

Mika ließ von der Frau ab. Am liebsten würde er sie für ihre Dummheit aus dem Fenster werfen, doch dafür blieb keine Zeit. Die Soldaten würden gleich bei ihnen sein.

Er hob die Spritze, die die Frau verloren hatte, vom Boden auf und ging zu Yuki und Gia. »Kommt, wir müssen von hier verschwinden.«

Toms tauchte wieder im Raum auf. Er nickte Mika zu. Jetzt war es allerhöchste Zeit, zu verschwinden. Mika nahm Yuki und Gia an die Hand.

»Wir müssen jetzt.«

Er blickte Yuki an, der große Augen machte. Wortlos blickte Yuki zu Boden. Seine Mundwinkel zuckten.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Gia. Ihre Stimme war krächzend, als hätte sie tagelang nichts zu trinken bekommen.

Mika blickte sich um. Fahle, knochige Gesichter, blass wie ein Geist, waren in der Dunkelheit auszumachen. Traurige Augen starrten zu ihm, als wünschten sie sich, dass er sie retten würde.

»Wir können sie nicht mitnehmen«, meinte er und zog sanft an Gias Hand. Sie ließ es geschehen, ließ sich von ihm von den anderen Kindern wegziehen.

Sie traten durch die Tür auf den hell erleuchteten Gang. Toms stand um die Ecke und spähte nach möglichen Feinden. Langsam ergriff Mika die Klinke und schloss die Tür, so behutsam wie eine zerbrechliche Blume.

»Sie kommen.« Toms rannte auf sie zu. Sofort erwachte Mika aus seiner Trance, nahm Yuki und Gia noch fester an der Hand und rannte den Gang entlang, achtete dabei immer darauf, dass seine Geschwister mithalten konnten.

Hinter ihnen polterte es, Schritt näherten sich ihnen, wurden immer lauter.

»Hier lang.« Toms bog in einen Seitengang ab und Mika zog seine Geschwister mit sich. Warum mussten diese Gänge immer wie ein Labyrinth angelegt sein?

»Schneller«, sagte Mika schnaufend zu Yuki und Gia. Sie mussten von hier verschwinden!

Toms rannte bereits weiter vorne. »Wo rennen wir eigentlich hin?«, rief er Toms zu.

Toms antwortete nicht, bedeutete ihm mit einer Handbewegung still zu sein. Mika seufzte und folgte Toms. Ihm blieb ja auch nichts anderes übrig.

Plötzlich zog Yuki an seiner Hand. »Ich kann nicht mehr.«

Verdammt. Mika blieb stehen und lauschte. Die Schritte kamen noch immer näher, sie waren ihre Verfolger noch nicht los. Verdammt.

»Wir müssen weiter«, meinte er zu Yuki. Er zog an seiner Hand. Yuki kam nur schwer hinterher. Sein Atem rasselte hörbar und ging nur noch stoßweise. Er überanstrengte sich.

»Lauft weiter!«, befahl er seinen Geschwistern, dann ließ er sie los und sprintete vor zu Toms, der bereits um die nächste Ecke bog.

»Toms.« Er bekam den alten Mann an seinem Ärmel zu fassen. »Yuki kann nicht mehr. Wir müssen anhalten und ein Versteck finden.«

Toms seufzte und drosselte sein Tempo, bis er schließlich ganz stehen blieb. Nun kamen auch Yuki und Gia um die Ecke gelaufen, oder besser gesagt, sie schleppten sich um die Ecke. Yukis Lippen waren blau verfärbt. Er keuchte.

»Ich ... kann nicht mehr«, stammelte er, als er und Gia Mika erreichten.

Fieberhaft sah Mika sich um. Hier gab es keine Verstecke, keine Nischen, in die man sich kauern konnte, keine Gegenstände, hinter die man krabbeln konnte.

»Mika«, rief Toms von weiter vorne. »Hier rein.« Er zeigte auf eine Metalltür, die genauso aussah wie die anderen Türen zu den Zimmern mit den Kindern auch.

Mika nahm Yuki an der Hand, gemeinsam liefen sie so schnell es ging zu der Tür. Mittlerweile hörte Mika deutlich Schritte und Gerede hinter ihnen.

Toms zog die Tür auf und sie traten ein. Sofort schloss Toms die Tür wieder, sodass sie nun in einem stockfinsteren Raum waren.

Es war unheimlich, hier nahe der Tür zu stehen und nicht zu wissen, ob einen gerade sämtliche Kinder in dem Raum anstarrten. Es herrschte Totenstille und Mika hatte beim Hereingehen nicht erkennen können, ob hier überhaupt Kinder untergebracht waren.

Neben ihm schnaufte Yuki leise, doch sein Atem beruhigte sich wieder. Mika nahm seinen Arm und fühlte seinen Puls. Yukis Herz raste und pumpte Blut durch den kleinen Körper.

»Pscht«, machte Mika. »Beruhige dich. Ruhig ein und ausatmen.«

Das war nicht das erste Mal, dass Yuki keine Luft mehr bekam. Er vertrug körperliche Anstrengungen nicht gut. Jedes Mal, wenn er laufen musste oder andere anstrengende Sachen tun musste, verfärbten sich seine Lippen blau. Am Anfang hatten sie das nicht erkannt und haben Yuki weitermachen lassen. Bis er dann plötzlich umgefallen war, auf dem Boden lag und um Luft gerungen hatte.

Yuki kam allmählich wieder zur Ruhe, sein Puls normalisierte sich. Draußen wurden die Schritte nun lauter, Soldaten liefen an ihrem Raum vorbei. Offensichtlich rechneten sie nicht damit, dass sich irgendjemand in den Räumen verstecken könnte, denn niemand sah nach.

Dann verhallten die Schritte. Toms öffnete vorsichtig die Tür und spähte heraus. Nun fiel ein kleiner Lichtschimmer in den Raum.

Im schwachen Licht konnte Mika die bleiben, ausgefallenen Gesichter erkennen, deren Blicke auf sie starr gerichtet waren. Müdigkeit, Angst und Verzweiflung lag in den Gesichtern der Kinder, zumindest glaubte er, dass es das war.

Mika drehte sich weg und verließ den Raum. Er zog Yuki und Gia an der Hand hinter sich her.

»Sind sie weg?«, fragte Gia und blickte ängstlich den Gang hinab.

Mika nickte. »Ja. Aber sie können zurückkommen. Wir müssen uns beeilen.«

»Dort ist der Ausgang.« Toms wies auf eine breite Tür, deren Türflügel aus Glas bestanden. Dahinter war der leere, trostlose Vorplatz zu erkennen, der wirkte, als wäre er aus Beton gegossen.

Sie liefen zu der Tür. Sie ließ sich öffnen. Toms trat hinaus ins Freie und sondierte die Umgebung. Dann gab er ein Zeichen. Die Luft ist rein. Mika drehte sich ein letztes Mal um, hatte wieder das Bild der zusammengepferchten Kinder in den Zimmern vor sich, dann schüttelte er die Gedanken ab. Sie konnten nichts für die Kinder tun.

Toms drehte sich zu ihm um. »Kommst du?«

Mika trat ins Freie. Keine Soldaten waren zu sehen. Glück gehabt. Sie rannten über den Vorplatz in die Gasse, aus der sie gekommen waren.

Erst hier verlangsamte Mika sein Tempo und blieb stehen. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Mittlerweile hatten auch die Explosionen und Schießereien aufgehört.

»Und was machen wir nun?«, fragte Toms.

Mika dachte nach. Sie mussten aus der Stadt raus und das möglichst schnell. Will war bestimmt schon weg, er würde nicht auf sie warten.

»Jetzt holen wir unsere Mutter.«

AußenseiterWhere stories live. Discover now