Kapitel 15

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»Mika.« Wills Stimme riss Mika aus einem unruhigen Schlaf. Er schlug die Augen auf. »Geht es dir wieder besser?«

Mika nickte schwach und wollte aufstehen, als ein Stich durch seinen Unterleib fuhr. Er stöhnte auf. Er tastete vorsichtig nach seinem Hals, der noch immer von Vikars Würgegriff geschwollen war.

»Es geht schon«, flüsterte er. Dann glitt er wieder weg, zurück in die Dunkelheit.

Ein stechender Kopfschmerz ließ ihn aufwachen. Mika richtete sich auf. Tatsächlich ging es ihm nach dem Schlaf nun etwas besser.

»Mika.« Will kam in den Raum herein. »Ich wollte dich gerade wecken. Wir müssen etwas besprechen.«

Mika hatte geahnt, dass etwas kommen würde. Will hatte ihn freigekauft. Zu einem sehr hohen Preis. Und das, obwohl er und seine Familie wahrscheinlich so schon wenig Mittel zur Verfügung haben. Mika war Will dafür unglaublich dankbar. Aber wie sollte er das Will zurückgeben?

Mika wollte aufstehen, doch Will hielt ihn zurück. »Bleib sitzen. Wir werden hier reden.«

Er setzte sich neben Mika auf das Bett. Auf sein Bett. Er hatte es Mika zur Verfügung gestellt, damit dieser sich ausruhen konnte.

»Es tut mir leid, dass ich euch Ärger gebracht habe. Ich werde es euch irgendwie zurückgeben.«

Will sah ihn mit ernstem Blick an. »Wie?« Mika blickte auf den Boden. Wie? Das war eine Frage, auf die er bislang keine Antwort hatte.

Er seufzte. »Ich weiß es noch nicht. Aber ich verspreche, dass ich es irgendwie schaffe.«

Schweigen von Will. Bedeutete das, dass er zustimmte? Oder zweifelte er an Mikas Worten? Mika stützte seinen Kopf mit den Armen ab. Na ja, wahrscheinlich würde sich selber nicht glauben, wenn er in Wills Situation wäre. Er konnte ihn gut verstehen. Will hatte eine Familie zu ernähren. Er musste für ihr Wohl sorgen. Mika kam ihm da nicht besonders gelegen.

»Es tut mir leid«, flüsterte er.

Will sah ihn an. »Das muss es nicht. Ich habe eine Möglichkeit, wie du mir etwas zurückgeben kannst. Du musst bei etwas mitmachen. Aber ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird.«

Moment. Redete Will davon, dass er etwas Kriminelles machen sollte? Wie Vikar das getan hatte? Sollte er etwas stehlen? »Ich ... ich verstehe nicht«, stammelte er.

»Es hat etwas mit dir zu tun. Und damit, wo du herkommst.« Er redete von der Stadt. Aber ... er wollte doch noch etwas aus der Stadt stehlen, oder?

»Aber was willst du in der Stadt? Ich meine ... du willst doch da nicht rein, oder? Das kannst du nicht. Da sind überall Wachen und Drohnen und so. Da kommt niemand von außen rein. Niemand, okay?« Sein Herz raste. Nicht wieder in die Stadt. Nein, das ging nicht. Man würde sie fangen.

»Hey. Beruhige dich.« Will redete mit sanfter Stimme auf ihn ein. Es wirkte. Mikas Puls normalisierte sich wieder. »Wir kommen da nicht rein«, sagte er, diesmal ruhig.

Will sah ihn lange an. Blickte ihm in die Augen, als wolle er darin lesen, ob er die Wahrheit sprach. »Hör mir zu. Ich bin Teil einer Gruppe. Wir planen schon seit langem etwas Großes. Etwas, das die Situation aller hier verbessern könnte. Und du bist unser Schlüssel. Du kommst aus der Stadt. Du kennst dich aus. Du konntest fliehen.«

»Ja, mit viel Glück«, unterbrach Mika Will. »Sie hätten mich beinahe erwischt. Ich kann von Glück sprechen, dass ich noch lebe.«

»Ja, aber was zählt, ist, dass du es herausgeschafft hast. Dann kann man es auch hereinschaffen.« Aus Will sprudelte die Euphorie geradezu heraus.

Mika schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist unmöglich. Das ist ein Himmelfahrtskommando.«

Will sah ihn irritiert an. »Ein was?«

Mika brauchte einige Sekunden, bis er begriff. »Ein Himmelfahrtskommando. So hat das Jamie immer genannt.« Bei dem Gedanken an Jamie fuhr ihm ein Stich durch das Herz. »Es bedeutet ...« Er schluckte. Jetzt nicht weinen. Nicht weinen. »Es bedeutet, dass es aussichtslos ist. Und das man sterben wird.«

»Lieber sterben als dieses Leben hier leben.« Wills Blick wanderte zur Tür. Er dachte an Lilly und seine Frau, das sah man ihm an. »Ich muss es tun. Für Lilly.«

Mika schwieg. Er verstand Will irgendwie. Aber es ging nicht. Sie würde nicht einmal in die Nähe der Stadt kommen. Es gab einen Alarm. Man würde sie frühzeitig entdecken und erschießen, noch bevor sie die Mauern erreichen würden.

»Es geht nicht. Wir werden es nicht schaffen«, versuchte er es erneut. Wie sollte er Will bloß begreiflich machen, dass sein Plan nicht aufging? Dass sie keine Chance hatten, die Stadt auch nur ansatzweise zu erreichen.

Will entgegnete nichts. Lange Zeit saßen sie einfach schweigend nebeneinander. Sie sahen einander nicht an. Es war ein seltsames Schweigen. Mika verstand Will gut. Er hatte auch alles für seine Familie getan. Doch was hatte es ihm am Ende gebracht? Nichts. Er war nun hier, seine Familie ... Wo waren sie wohl im Moment? Wie ging es ihnen?

Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken daran zu vertreiben. Je früher er sich damit abfand, sie nie wiederzusehen, desto besser. Denn das war unvermeidlich.

»Du bist es mir schuldig«, sagte Will aus dem Nichts.

Mika war für einen kurzen Moment überrascht von dem plötzlichen Satz, doch dann begriff er, worauf Will hinauswollte.

»Ich mag dich, Mika. Du bist ein netter Junge. Deshalb wollte ich dir helfen. Und ich möchte dich eigentlich nicht zu etwas bringen, was du nichts tun möchtest.« Er machte eine kurze Pause. Wartete er auf Widerspruch? Doch der kam nicht, also fuhr er fort. »Ich dachte, du würdest zurückwollen. Wegen deiner Familie. Aber vielleicht habe ich mir ja auch nur etwas vorgemacht.« Seine Stimme klang wehmütig.

Mika wollte am liebsten etwas darauf entgegen, dass er so gerne seine Familie wiedersehen wollte, dass es aber unmöglich war, doch er schwieg.

»Aber wenn du nicht mitmachen möchtest, werde ich dich dazu zwingen. Du musst mich verstehen. Ich will dir nicht schaden oder dich zu etwas zwingen. Aber ich habe auch Familie. Und eines weiß ich ganz sicher. Lilly soll niemals so ein Leben haben.«

Mika schwieg. Was sollte er auch sagen? Will könnte ihn dazu zwingen, wenn er wollte. Er hatte Mika gekauft. Nun gehörte Mika ihm. Und er konnte mit ihm machen, was er wollte.

»Mir wäre es lieber, wenn du es freiwillig machen würdest.«

»Damit du kein schlechtes Gewissen bekommst?« Sofort bereute Mika, was er gesagt. Und wie er es gesagt hatte. Will war kein böser Mensch. »Es tut mir leid. Ich ...«

Will nickte. »Ich kann verstehen, wie du dich fühlst, aber deine Angst ist unbegründet. Wir haben einen Plan, der sehr gut ist. Und mit dir wird er perfekt werden.«

Mika bewunderte Will für seinen Optimismus. Aber er teilte ihn nicht. Er wusste, wie es wirklich war. Niemand kam in die Stadt rein. Niemand. Das war die traurige Wahrheit und irgendwann würde sich aus Will damit abfinden müssen.

»Bitte Mika, mach mit.« Wills Bitten war zu einem regelrechten Flehen geworden. »Bitte. Tue es für Lilly.«

Mika sah Lilly vor seinen Augen. Ihre Fröhlichkeit. Ihre Unschuld. Sie hatte so viel von Gia. Würde er es für Gia machen?

Nein, sagte sein Verstand, doch sein Herz sagte etwas anderes. Es war falsch, sich einzubilden, dass Hoffnung bestand, sie doch wiederzusehen. Aber diese falsche Hoffnung blühte in eben diesem Moment in ihm auf und verbreitete sich in ihm. Mit jeder Faser seines Körpers konnte er es spüren. Das Verlangen, Will nachzugeben.

Er seufzte. »Ich mache es.«

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt