Kapitel 22

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Die Sache war schnell beschlossen. Sie mussten so schnell wie möglich aufbrechen, wer wusste, wie viel Zeit ihnen noch blieb. »Morgen geht es los«, meinte Will. »Wir sollten uns ausruhen.«

Mika erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen in das Zelt gelangten. Er streckte sich. Er hatte schlecht geschlafen und war die halbe Nacht aus Sorge um seinen Vater und seine Geschwister wach gewesen und hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Er spürte die Müdigkeit in seinen Knochen und versuchte sie zu vertreiben. Vergebens.

Noch etwas benommen rieb er sich die Augen und trat ins Freie. Der Himmel hatte eine leicht rötliche Färbung. Mika kam es wie ein göttliches Zeichen vor. Aber quatsch. Es gab keinen Gott. Das war etwas für Fanatiker.

Er atmete die kühle Morgenluft ein, der Wind wehte durch seine Haare, ließ sie umherflattern. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Mika. In der Tat war alles still. Es waren kaum Menschen unterwegs. Ungewöhnlich. Aber es zeigte, wie nervös sie alle waren.

Mika seufzte und kehrte ins Zelt zurück. Dort wusch er sich mit kaltem Wasser aus einem Eimer das Gesicht und zog sich an. Er wählte robuste, lange Kleidung, die bequem war und ihn nicht behindern würde.

Er blickte in die hintere Ecke, in der die Waffe an die Wand angelehnt war. Irgendwie fühlte er sich unwohl bei dem Gedanken, sie einsetzen zu müssen, doch er nahm sie an sich und verließ das Zelt.

Mika machte sich auf den Weg zu Will. Hoffentlich war er schon wach. Wobei, bestimmt war er das.

Ihm kamen nur wenige Menschen entgegen. Eine Frau trug einen Wasserkrug. Das Wasser schwappte gefährlich im Krug hin und her, doch offenbar wusste die Frau genau, was sie tat, denn es lief nicht über.

Mika beschleunigte seinen Schritt. Da vorne war das Hauptzelt. Und daneben ... er stoppte abrupt. Fassungslos starrte er auf das Zelt, das als Gefängnis für Kalle diente. Oder besser gesagt gedient hatte. Mika war wie gelähmt. Das war doch nicht möglich. Wie um alles in der Welt–?

Er brachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern rannte. Alles um ihn herum verschwand, er konzentrierte sich nur noch auf sein Ziel. Wills Zelt. Mika sprang über einen Holzeimer, der mitten auf dem Weg lag. Normalerweise hätte er ihn aufgehoben. Doch jetzt hatte er keine Zeit dafür. Er musste so schnell wie möglich die anderen informieren.

Da war es. Mika stürmte in Wills Zelt hinein, ohne auf irgendetwas zu achten. Er riss die Eingangsplane hoch und ...

... etwas Dunkles raste auf ein zu. Ein Schlag. Mika ging zu Boden. Sein Kopf dröhnte. Er hörte jemanden aufgeregt rufen. Mika fasste sich mit der Hand an seinen pochenden Schädel. Er erspürte etwas Nasses. Erschrocken blickte er auf seine Hand. Sie war rot.

»Mika«, schrie jemand. War das Will? Er stöhnte auf. Die Person, ja das war Will, beugte sich zu ihm hinunter, befühlte seinen Kopf, schrie dann um Hilfe.

Mika kam sich in diesem Moment so schwach vor. So erbärmlich. Er versuchte sich aufzurichten, doch ein Stich fuhr durch seinen Körper und lähmte ihn. Er sackte zurück auf den Boden und musste erneut stöhnen.

»Schnell!«, hörte er. Um ihn herum wurde alles schemenhafter und immer undeutlicher. Die Welt verschwamm. Schatten, die sich über ihn beugten. Ein Brennen. Feuer. Oder war das sein Kopf?

»Mika.« Jemand verpasste ihm einen kräftigen Schlag auf die linke Wange. »Mika.« Erneut ein Schlag, diesmal auf die rechte Wange. Doch es half. Der Schmerz holte ihn wieder zurück aus seiner Trance in die Realität.

»Will.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern. Doch Will schien ihn zu hören.

»Bleib liegen. Du musst ruhig bleiben. Alles wird gut.« Warum klang er dann nicht so, als würde er wirklich glauben, dass alles wieder gut werden würde?

Immer noch dröhnte alles. Ein schmerzvolles Pochen ging durch seinen ganzen Körper. Er schrie auf. Ein stechender Schmerz breitete sich aus. Wurde stärker und stärker. Jemand drückte seine Hand, doch es war kaum mehr als eine Nebensache. Mika musste all seine Kraft aufwenden, um dem Schmerz standzuhalten.

Wieder schrie er. Sein Körper verkrampfte sich. Was–? Dann wurde alles vor seinen Augen schwarz.

Mika erwachte auf einer weichen Liege. Der Schmerz in seinem Kopf war größtenteils verschwunden, nur ein kleines Brummen war noch da. Er würde es überleben.

In diesem Moment wurde die Plane hochgeschoben und Will trat ein. Er nickte Mika schwach zu. »Es tut mir leid. Ich habe dich für einen Angreifer gehalten und dich niedergeschlagen. Hat eine schöne Platzwunde gegeben. Wir musste das nähen. Leider hatten wir keine Betäubung parat.«

Aha. Daher also dieser Schmerz. Plötzlich fiel Mika wieder ein, warum er überhaupt so überstürzt in Wills Zelt gerannt war. »Kalle ist weg. Er–«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Will. »Wir haben keine Ahnung, wie das passieren konnte. Er muss jemanden gehabt haben, der ihm geholfen hat.«

Das leuchtete ein. Anders würde Kalle es ja wohl kaum geschafft haben. »Wissen wir, wo er ist?«

Will schwieg und senkte den Blick. »Wir müssen bald aufbrechen. Zur Stadt. Was meinst du, wirst du es schaffen?«

Der plötzliche Themenwechsel irritierte Mika, doch er nickte. »Ich hab nur ein bisschen Kopfschmerzen. Das ist alles. Ich werde es wohl überleben.«

Das ließ Will kurz lächeln. Es tat gut, jemanden in diesen Zeiten noch lächeln zu sehen. Und das wiederum ließ Mika selber grinsen.

»Gut. Wir werden in zwei Stunden aufbrechen. Ich wollte dich bloß schon einmal vorwarnen.« Will verließ das Zelt und ließ Mika alleine.

Zwei Stunden später war er bereit. Er trug einen Rucksack auf den Rücken, bepackt mit allen Sachen, die er für ihr Vorhaben benötigte. Er würde die Ablenkung sein, damit die anderen durch die Kanäle in die Stadt eindringen konnten.

Als sie durch den Wald richtig Stadt wanderten, achtete Mika auf jedes Geräusch. Das Rascheln von Tieren im Gebüsch, das Zwitschern der Vögel, das Heulen des Windes. Äste streiften seine Kleidung. Es war so wunderbar. Und der Geruch. Nach Bäumen. Nach Büschen. Nach Gräsern und Blumen. Man fühlte sich so ... lebendig. Und Mika wollte jedes bisschen davon aufsaugen. Vielleicht würde er es nicht überleben. Aber wenn, dann würde er seine Familie hier hinführen. Er würde Yuki und Gia zeigen, wie toll dieser Wald war, welche Tiere und Pflanzen hier lebten.

Beinahe stolperte er über eine Wurzel, aber er konnte sich geradeso noch auf den Beinen halten. Konzentriere dich, sagte er sich selber.

Sie kamen an der Lichtung vorbei, auf der Mika das Schießen gelernt hatte. Erinnerungen überfluteten ihn, Bilder tanzten vor seinen Augen. Jetzt musste er treffen. Ansonsten war er schon so gut wie tot.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, je näher sie der Stadt kamen. Komisch. Eigentlich hatte er immer gewollt, dass er dortblieb. Und nun sträubte sich sein Inneres dagegen, zurückzukehren. Er rief sich die Bilder von Yuki und Gia vor sein Auge. Er war ihretwegen hier. Und wegen seines Vaters und seiner Mutter. Völlig egal, was die anderen taten, er würde seine Familie von hier fortschaffen.

»Wie geht es dir?« Will kam zu ihm herüber. Es tat irgendwie gut, dass er dieses unangenehme Schweigen, dass über ihnen wie ein Tuch hing, brach. »Denkst du, du schaffst es, sie lange genug abzulenken?«

»Das schaffe ich.«

Will nickte. »Wenn wir erst einmal drin sind, kann uns niemand mehr aufhalten. Wir haben Waffen, wir haben Sprengstoff, wir werden die Regierung stürzen. Damit endlich alle glücklich leben dürfen.«

Mika sagte dazu nichts. Erglaubte nicht daran, dass sie es schaffen würden. Aber das war auch egal. Ermusste sich um seinen eigenen Plan kümmern. Er atmete ein letztes Mal tiefdurch. Dann trennte er sich von der Gruppe und machte sich auf.

AußenseiterWhere stories live. Discover now