Kapitel 5

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Nein. Nein, das durfte nicht sein. Es musste ein Fehler sein. Aber Mika wusste, dass es keiner war. Er hatte immer gewusst, dass es geschehen könnte. Er hatte mit dem Feuer gespielt. Geglaubt, dass ihn nicht treffen würde. Doch nun war es passiert. Und er wusste, was das für Folgen haben würde.

Er war jetzt ein Außenseiter. Er war jetzt Eigentum des Staates. Was würden sie mit ihm machen? Was würde aus seiner Familie werden?

»Steh auf«, befahl ihm eine raue Stimme. Wie ferngesteuert erhob sich Mika langsam. Er wehrte sich nicht. Wenn er sich wehren würde, machte er nur alles schlimmer. Schlimmer als es eh schon war.

»Wie heißt du?« Vor ihm stand ein ranghoher Soldat. Mika erkannte es an den Orden auf der Uniform.

»Das wissen sie doch bereits«, sagte er verbittert. Wie sollte er sich auch sonst fühlen?

Der Mann musterte ihn. »Ich habe dich gefragt, wie du heißt.« Aus dem Nichts raste eine Faust auf Mikas Gesicht zu. Er prallte mit dem Kopf gegen die Wand hinter ihm. Sein Schädel dröhnte. Er sah nur noch Rot.

»Mika«, flüsterte er. »Ich heiße Mika.«

Der Mann lächelte ihn an. Mika wollte sich übergeben. »Na Mika. Wohl keine Freunde mehr. Wie blöd.«

Mika stiegen Tränen in die Augen. Alles in ihm drängte darauf, sich auf den Mann zu stürzen und ihn niederzuschlagen. Doch er musste sich unter Kontrolle haben. Wenn er jetzt etwas tat, würden sie ihn das für den Rest seines Lebens spüren lassen.

Der Mann nickte einem anderen Soldaten zu. »Komm her. Bring unseren Mika nach Hause. Er soll sich noch ein bisschen ausruhen. Verabschieden, bevor es für ihn auf die große Reise geht.« Der Mann lachte. Ein paar Soldaten lachten mit, doch sonst schien niemand in dem Raum das lustig zu finden.

Der Soldat tat wie geheißen und führte Mika aus dem zerstörten Gebäude heraus.

»Warten Sie.« Tarik tauchte hinter ihnen auf. Was tat Tarik da? Hatte er den Verstand verloren? Er wollte doch nicht etwa–?

Tarik stand vor ihm. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, und spuckte Mika ins Gesicht. »Arschloch«, schrie er, als Soldaten ihn von Mika wegzogen.

»Komm jetzt.« Der Soldat zog Mika mit sich, weg von den anderen, die ihnen hinterherstarrten.

Das Fahrzeug, auf das sie Jamie aufgeladen hatten, war verschwunden. Wo sie ihn wohl hinbrachten? Erneut liefen Mika Tränen über die Wangen. Der Soldat dachte wohl, dass Mika Angst vor dem hatte, was kam, und versuchte ihn zu trösten.

»Hey, ich hab gehört, es ist gar nicht so schlimm in den Lagern. Wenn man gut arbeitet, wird man auch gut behandelt.«

Mika schüttelte den Kopf. »Mein Freund ist tot.« Jedes einzelne Wort spuckte er aus wie Gift. »Mein letztes Problem sind die verdammten Lager.«

Der Soldat schwieg. Offenbar wusste er nicht, mit einer solchen Situation umzugehen. Er sah noch jung aus. Unerfahren. Verweichlicht.

Sie stiegen in ein Fahrzeug, das etwas abseits der Straße stand. Es war ein kleines Militärfahrzeug. Alt. Dellen zierten die Motorhaube. Die Scheiben waren so dreckig, dass man kaum sehen konnte. Die Griffe rostig.

Der Soldat stieß Mika unsanft auf die Hinterbank. Ob er es mit Absicht tat oder nicht, konnte Mika nicht sagen. Dann stieg er vorne ein, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an.

Die Fahrt wurde eine lange und schweigsame. Mika weinte nicht mehr.

Doch was würde nun geschehen? Was würden seine Eltern sagen, wenn sie es erfuhren? Würden sie enttäuscht sein? Traurig? Wütend?

Mika blickte aus dem Fenster. Häuserreihen zogen an ihnen vorbei. In der Ferne sah er die Stadtgrenze. Die Mauer, die sein Verderben geworden war. Jamies Verderben. Wachen patrouillierten rund um die Stadt. Vielleicht kam es ihm nur so vor, aber es schienen mehr geworden zu sein.

Er hätte den Soldaten fragen können, ob er etwas darüber wusste. Aber er ließ es sein, denn er wollte nicht reden. Nicht jetzt. Nicht heute. Vielleicht nie wieder.

Und doch würde er heute reden müssen. Sie näherten sich immer weiter seiner Wohnung. Und damit seinem Geständnis. Er war dafür nicht bereit. Er wollte nicht zurück. Nach Hause. Alles. Bloß nicht seinen Eltern in die Augen sehen und ihnen sagen, dass er sie angelogen hat. Dass er sie getäuscht hat. All die Jahre über.

»Wir sind gleich da«, sagte der Soldat, ohne sich umzudrehen.

Mika seufzte. Konnte nicht irgendetwas passieren? Ein Unfall. Irgendetwas, damit er sich nicht dem stellen musste, was nun folgen würde.

Sie fuhren in die Straße ein, in der Mikas Wohnung lag. »Woher wissen Sie, wo ich wohne?« Mika kannte die Antwort, doch er wollte Zeit schinden.

»Wir wissen alles«, meinte der Soldat nur, dann schwieg er wieder.

Sie waren da. Das Fahrzeug hielt vor dem Hochhaus, in dem Mikas Wohnung lag. Mika stieg aus. Der Soldat ebenfalls.

»Werden Sie mitkommen?«, fragte Mika. Der Soldat schüttelte den Kopf.

»Das musst du schon selber machen. Wir werden dich in drei Tagen abholen. So viel Zeit bleibt dir, dich zu verabschieden und deine Angelegenheiten zu klären. Denk daran. Du siehst sie vielleicht nie wieder.«

Mika nickte nur, dann trat er in das Hochhaus ein. Ihre Wohnung lag im zwanzigsten Stock. Er könnte mit dem Aufzug fahren.

Er nahm die Treppe. Nicht, weil er gerne Treppen lief. Nein, er wollte dem Unausweichlichen entkommen. Aber es war hoffnungslos. Das wusste er. Ihm blieben noch drei Tage. Drei Tage, dann würde er seine Familie nie wiedersehen. Seinen Vater. Seine Mutter. Yuki und Gia. Ein Stich fuhr durch seinen Körper, als er daran dachte, sie zurücklassen zu müssen.

Nun kamen die Tränen in ihm wieder hoch. Er blickte auf die Uhr im Gang. Fünf Uhr morgens. Seine Mutter war bestimmt schon wach. Sie hatte sein Fehlen sicher gemerkt.

Er schluckte. Hielt sich am Treppengeländer fest. Seine Beine schlotterten, er konnte sich kaum halten. Jeder Schritt fühlte sich falsch an. Jeder Schritt schmerzte.

Der Gedanke, ihre Gesichter zu sehen, wenn sie aufmachten. Wenn er alles gestehen würde. Wie seine Mutter in Tränen ausbrechen würde. Sich das Gesicht seines Vaters verhärten würde.

Und Yuki und Gia still werden würden. Ihn mit großen nassen Augen anschauen würden und sehen würden, dass er sie im Stich ließ. Dass er sie alleine ließ. Dass er nie wieder für sie da sein würde.

Mikas Augen brannten. In ihm tobte ein Sturm aus Feuer und Eis. Kältewellen durchzogen ihn. Im nächsten Moment schien er zu glühen.

Sein Herz war kalt. Es schmerzte. Es zog sich zusammen. Es tat so weh! Er konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr.

Aber er kämpfte sich weiter voran. Schritt für Schritt auf sein Ziel zu.

Würde er die Kraft haben, alles zu erzählen? Oder würde er einfach nur vor ihren Füßen zusammenbrechen?

Er war da. Der zwanzigste Stock. Dort war ihre Wohnungstür. Er starrte auf die Holztür. Erinnerungen überfluteten ihn. Wie er als Kind vor dieser Tür gestanden war. Wie Jamie hier auf ihn gewartet hatte, wenn sie gemeinsam etwas unternommen hatten. Wie seine Mutter seine Geschwister durch diese Tür getragen hatte.

Und nun stand er davor. Nur drei Schritte trennten ihn von dieser Tür und doch kam es Mika vor, als wären es Kilometer.

Er nahm all seine Kraft zusammen und ging die letzten Schritte. Dort war das Schild mit ihrem Namen. Darunter ein Knopf.

Er drückte die Klingel.

AußenseiterWhere stories live. Discover now