Kapitel 20

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Mika wartete vor dem Hauptzelt und verlagerte sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß. Wann kam Will denn endlich wieder? Seit er vor einer Stunde in das Zelt mit mehreren wichtigen Männern gegangen war, hatte Mika nichts mehr von ihm gehört. Sie wollten den Plan noch einmal besprechen. Dank Kalles Verrat waren nun viele Männer außer Gefecht gesetzt. Wie durch ein Wunder hatten jedoch alle überlebt.

Das Zelt, in dem Kalle und seine Mitverschwörer eingesperrt waren, lag genau gegenüber. Es war ebenso weiß wie die anderen. Vor dem Eingang stand ein bulliger Mann mit einer Narbe, die sich von seinem Auge quer über seine Wange bis zum Kinn zog. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick machte jedem klar, dass niemand hineinkam, der dazu keine Erlaubnis hatte.

Mika hatte die Erlaubnis. Aber er wollte nicht. Wie sollte er Kalle jemals in die Augen sehen können? Er hatte ihm vertraut, er war sein Schüler gewesen. Jedes Mal, wenn er an Kalles Verrat dachte, fuhr ein Stich durch sein Herz. Andererseits wüsste er gerne, warum Kalle das getan hatte.

In diesem Moment trat Will endlich aus dem Zelt. Er hielt sich die Hand vor Augen. Die Sonne blendete stark, es dauerte eine Weile, bis sich die Augen daran gewöhnten.

Will erblickte ihn und kam winkend auf ihn zu. »Mika, warst du schon bei Kalle?«

Mika schüttelte den Kopf. »Nein. Und ehrlich gesagt habe ich das auch nicht vor. Kalle war für mich wie ein Lehrer. Ich verstehe nicht, warum er es getan hat. Aber ich könnte ihm nicht mehr in die Augen sehen, ohne daran denken zu müssen, was geschehen ist.«

Will nickte nur und ließ seinen Blick über die Zelte schweifen. Er blieb kurz bei dem Zelt von Kalle hängen, doch dann löste sich Will davon und sah ihn wieder. Er wollte anscheinend etwas sagen, wusste bloß nicht wie.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte Mika also. »Wann wir zum Beispiel beginnen?«

Will schwieg einen Moment. Er haderte sichtlich mit sich. »Wir müssen noch auf jemanden warten.«

Auf jemanden warten? Dass jemand gesund wurde? Aber das konnte ja noch ewig dauern. Das konnte den ganzen Plan verschieben. Was, wenn man es genauer betrachtete, ja gar nicht so schlecht war. Ihr Vorhaben war eh zum Scheitern verurteilt.

Will blickte wieder zum Zelt, in dem sich Kalle befand. Mika versuchte, einen Blick in das Besprechungszelt zu erhaschen. Doch dort lagen bloß tausende Zettel und Karten herum. Das reinste Chaos also.

»Wann wird dieser jemand denn wieder gesund sein?«, unterbrach Mika das Schweigen.

Will drehte den Kopf zu ihm herum. Er schien in seinen Gedanken woanders zu sein. Dennoch hatte er seine Frage verstanden, antwortete aber ausweichend. »Es ist niemand, den du kennst. Es ist ... schwierig zu beschreiben. Er ist nicht hier im Lager. Und wir haben leider keine Möglichkeit, zu wissen, wann er kommt. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass er kommt und dass er wichtige Informationen mitbringt, die wir brauchen.«

Mika hakte nicht weiter nach. Es war offensichtlich, dass Will ihm nicht mehr darüber erzählen wollte. Na ja, er würde es ja noch irgendwann erfahren.

»Du solltest zu Kalle gehen«, murmelte Will. »Ich bin mir sicher, er hatte einen guten Grund, warum er uns verraten hat.« Doch auch Will schien sehr mitgenommen von Kalles Verrat. Immerhin hatte auch er Kalle vertraut.

Er hat uns alle verraten, dachte Mika wütend. Will nickte ihm zu, verabschiedete sich und stapfte zwischen den Zelten hinweg. Mika spähte noch einmal hinüber zu dem Zelt, in dem Kalle war.

Vielleicht sollte er doch hingehen. Doch er hatte Angst, dass dann unbändige Gefühle in ihm aufsteigen könnten. Er war wütend auf Kalle. Und enttäuscht. Und diese Gefühle trübten sein Urteilsvermögen. Besser, er blieb bei klarem Verstand.

Seine Beine trugen ihn fort, in irgendeine Richtung. Er lief ziellos zwischen den Zelten umher. Männer und Frauen packten Ausrüstung für das bevorstehende Vorhaben zusammen, Waffen wurden gereinigt, Munition ausgetauscht.

Bei diesem Anblick fiel Mika ein, dass er ja noch gar keine Waffe hatte. Er drehte um und schlug fast denselben Weg zurück ein, den er gegangen war.

Neben dem Hauptzelt war ein Zelt aus einem schwarzen Stoff. Die Plane war geöffnet. Das Zelt war klein und eng. Gerade einmal drei Personen passten gleichzeitig herein. In der Mitte stand ein rechteckiger länglicher Tisch, auf dem Waffen lagen. Woher diese Waffe wohl alle kamen?

Mika schritt in das Zelt. Hinter dem Tisch stand ein bulliger Mann mit buschigen Augenbrauen, die er immer wieder zusammenzog. Das bedeutete bei ihm, dass er sehr skeptisch war. Wie jetzt gerade.

»Was willst du, Winzling?« Seine Stimme klang tief und dröhnend wie die eines der Generatoren in der Stadt, die elektrischen Strom erzeugten. Er zog seine buschigen Augenbrauen noch stärker zusammen.

»Ich möchte eine Waffe«, begann Mika zu sprechen.

»Ha!« Der Mann gluckste, was zu ihm überhaupt nicht passte. Mika hatte eher ein tiefes, grollendes Lachen erwartet, aber kein Glucksen. »Du kleiner Winzling möchtest eine Waffe? Ha, soll ich etwa einem Baby wie dir eine Waffe in die Hand geben? Du erschießt dich ja schneller als ich ah sage.« Wieder gluckste er, was Mika seltsam irritierte.

»Aber–«

»Kein Aber«, unterbrach ihn der Mann. »Du bist viel zu jung für eine Waffe. Sonst könnte ja jeder ankommen. Dann wär hier das Chaos los. Du hast doch gesehen, dass sogar Erwachsene mit den Teilen richtig Scheiße anrichten können. Also vergiss es.«

Mika seufzte. Wie sollte er das dem Typen denn jetzt erklären? »Ich bin aber kein kleines Kind. Ich hatte eine Schießausbildung. Bei ...« Er schwieg plötzlich.

Der Mann musterte ihn von oben bis unten. Dann fasste er sich in seinen Bart und grübelte. Man konnte förmlich seine Gedanken rattern hören. »Hm«, machte er immer wieder, während Mika ungeduldig mit seinen Fingern spielte. Wobei, weshalb war er eigentlich ungeduldig? Er hatte schließlich alle Zeit der Welt. Aber vielleicht war das auch nur das Unwohlsein. Er wollte so schnell wie möglich weg von hier.

»Du bist der Junge, den Kalle trainiert hat«, sagte der Mann, als habe er plötzlich die große Erleuchtung gehabt. Jetzt lächelte er.

»Ja, das bin ich«, meinte Mika genervt und verlagerte sein Gewicht auf die andere Seite.

»Hier hast du eine.« Der Mann reichte ihm eine Waffe. Mika verabschiedete sich mit einem Nicken und verließ das stickige Zelt. Draußen sog er die frische Luft ein.

»Mika!« Will kam auf ihn zugerannt. Er fuchtelte mit den Armen. Was hatte er bloß? »Er ist da!«

Plötzlich wurde Mika hellhörig. Redete Will von der Person, auf die sie gewartet hatten?

»Komm mit!« Er drehte sich schon, während er das sagte, um und rannte in Richtung des nördlichen Endes des Lagers. Mika sprintete ihm nach, er hatte gehörig Vorsprung. Es bereite ihm große Schwierigkeiten, mitzuhalten, Will hatte eine deutlich bessere Ausdauer und nahm keine Rücksicht darauf, ob Mika hinterherkam oder nicht.

Sie erreichten das äußerste Zelt des Lagers. Eine Menschenmenge hatte sich bereits davor versammelt. Leute tuschelten.

»Was ist denn hier los?«, murmelte Mika vor sich. Will indes winkte ihn zu sich und führte ihn durch die Menge, die für sie Platz machte. Sie betraten das Zelt. Im Inneren sah es genauso karg aus wie in den anderen Zelten. Kaum Ausstattung. Hier standen nur einige Stühle und ein kleiner Tisch. Ein einziger Mann saß auf einem Stuhl.

»Warum bin ich hier?«, fragte Mika.

»Mika, das ist unser Spion in der Stadt.« Will zeigte auf den Mann. »Ich habe ihn angewiesen, auf deine Familie zu achten. Er hat eine Nachricht für dich.«

Mikas Herz setzt kurz aus. Der Mann räusperte sich und sprach. »Deine Geschwister sind jetzt Außenseiter.«

AußenseiterWhere stories live. Discover now