Sechs

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Vor zehn Jahren

Ich war sechzehn. In der elften Klasse einer schnöseligen Privatschule, die mein Vater, anders als ich, für nötig hielt.

Er beäugte gerade zufrieden die Eins, die ich auf meine letzte Mathearbeit geschrieben hatte. Achtundneunzig Prozent. Hätte ich nicht die Hälfte der Antworten von Sarah abgeschrieben, wäre es bestimmt keine Eins geworden. Eigentlich war ich gut in der Schule, einzig und allein Mathe war ein Problem, aber das musste mein Vater ja nicht wissen. Sarah störte es nicht, dass ich von ihr abschrieb, solange sie mich als Ausrede nutzen durfte, um ihren Freund besuchen zu gehen. Er war schon am College und fast drei Jahre älter als sie, aber sie sagte, bei Liebe spielte das Alter keine Rolle. Ich mochte ihn nicht. Er war nervig und wollte viel zu oft auf irgendwelche langweiligen Dates mit Sarah gehen. Jedes Mal, wenn sie von ihm erzählte, wurde mein Körper dumpf. Ich tat es damit ab, dass ich mir einfach Sorgen um meine beste Freundin machte.

„Gut gemacht, Betty", sagte Dad nun und es klang, als würde er es wirklich so meinen. Er nahm einen weiteren Schluck aus seinem Weinglas und schenkte mir ein fast-Lächeln. Das konnte er sich eigentlich sparen.

„Danke", sagte ich und kurz herrschte Stille.

„Uhm, Dad?", wisperte ich und biss nervös auf meiner Unterlippe herum. Sarah sagte immer, das sollte ich nicht tun, da sie sonst unküssbar werden würden. Aber ich wollte gar nicht geküsst werden, also war das okay.

„Ja?" Er sah mich forsch an.

„Kann ich morgen zu Sarah? Zum Übernachten." Übernachten würden wir, aber definitiv nicht bei ihr. Sie wollte mich mitnehmen, ans College. Um mal eine richtige Party zu erleben. Ich wusste nicht, wie eine richtige Party aussehen würde. Bestimmt nicht viel anders als die, zu denen Sarah mich bisher mitgeschleppt hatte. Stellte ich mir vor.

Ich betete, dass er ja sagen würde. Er kannte Sarah seit Jahren, er kannte ihre Eltern, mochte ihre Eltern. Meist erlaubte er es mir, wenn es um sie ging,

„Wenn du trotzdem all deine Hausaufgaben erledigt bekommst. Wir wollen doch, dass du Klassenbeste bleibst." Durchs Schummeln.

„Ja, tu ich. Versprochen."

„In Ordnung. Dann ist das okay." Er nickte knapp und damit war das Gespräch beendet. Wir redeten nie viel, und das fand ich gut so. Ich konnte den Klang seiner Stimme nicht ausstehen. Ich mochte es nicht, wenn er seinen Mund aufmachte.

„Du solltest jetzt ins Bett", sagte er nach zehn Minuten.

Es war halb neun. Wenn er wirklich glaubte, dass ich um halb neun schlafen gehen würde, hatte er sich tatsächlich schon das komplette Gehirn weggesoffen. Aber ich zog die Stille in meinem Zimmer der Stille im Wohnzimmer vor, also murmelte ich lediglich ein ‚Ja'.

„Gute Nacht", murmelte ich und stand auf, ging Zähne putzen. Und ja, ich benutzte immer noch die mit Kaugummigeschmack. An Minze hatte ich mich auch nach fast zehn Jahren noch nicht gewöhnt.

Morgens, als ich aufstand, war er schon weg. Freitags ging er immer extra früh zur Arbeit. Ich hatte absolut kein Problem damit, dass ich ihn dann nicht sah.

Den ganzen Schultag über war ich irgendwo...anders. Vielleicht bei Sarah, die ich nach der ersten Stunde nicht mehr sah. Vielleicht bei Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil 1, den ich nächste Woche im Kino sehen würde. Zusammen mit Sarah.

Wenn man nur eine Freundin hat, hat man eben nicht viel Auswahl.

Mom hatte mir die ersten vier Harry Potter-Bücher vorgelesen, und die letzten drei hatte ich selbstständig gelesen. Dad fand sie doof. Kindisch. Nannte sie eine Zeitverschwendung. Aber ich mochte es, mich für ein paar Stunden in Geschichten zu verlieren, in die Worte einzutauchen.

Definiere LiebeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora