Sechsunddreißig

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Am nächsten Morgen wachte ich ungewohnt früh auf. Gedämpfte Stimmen drangen aus Lucies Schlafzimmer zu mir durch. Ich verstand nicht viel, nur ein paar Fetzen. Eine von ihnen war Lucies, die andere erkannte ich nicht.

Es wurde leise, ich hörte, wie die beiden in Richtung Wohnzimmer gingen. Ein Blick zu Michael verriet mir, dass er noch schlief. Ich stand auf und begab mich in den Gang. Im Wohnzimmer sah ich Lucie, gegen die Wand gelehnt, in dem Eingang zur Küche stand eine Frau mit Beinen, die vermutlich länger waren als der Mississippi.

„Oh. Morgen", sagte eben diese.

„Hey!", begrüßte nun auch Lucie mich. „Das ist meine Schwester. Ihr kennt euch noch gar nicht, oder?"

„April-June", stellte sie sich vor. AJ. Jetzt war mir endlich klar, wofür Lucies Tattoo stand. „April reicht aber auch. Oder June. Wie du magst." Sie sahen sich irgendwie ähnlich und irgendwie waren sie das genaue Gegenteil voneinander. April war blond, aber ihre Nase hatte die gleiche Form wie Lucies. Ihre Augenfarbe konnte ich bei dem starken Makeup kaum erkennen. Sie sahen zumindest dunkler aus als Lucies. „Und du bist...?"

„Eleanor", sagte ich und lächelte. Lucie nickte mir zu und formte mit dem Mund ein ‚Gute Wahl'.

„Nett dich kennenzulernen, Eleanor."

„Gleichfalls."

„Ich muss wieder los, Kyles Lehrerin hat angerufen. Er hat scheinbar Bauchschmerzen."

„Kyle ist ihr Sohn", erklärte Lucie mit einem Strahlen.

„Ich glaub' das hat sie verstanden", murmelte April ihrer Schwester zu, gerade so laut genug, dass ich es verstehen konnte.

„Vielleicht ja auch nicht", murrte diese und umarmte April, bevor diese uns winkte und aus der Tür verschwand. „Hunger?", fragte Lucie mich jetzt, was ich mit einem Nicken beantwortete.

Sie setzte sich mit zwei Tellern zu mir. „Wir hatten nicht mehr viel da, ich hoffe Brot und Aufstriche reichen dir?"

„Brot ist super."

Wir redeten nicht viel, während wir aßen. Als Tara aus dem Bad kam, wechselten wir beide ein paar Worte mit ihr. Meine Innereien zogen sich zusammen, als sie Lucie zum Abschied küsste und sich dann auf den Weg zur Arbeit machte.

„Hast du gar keine Uni?", fragte ich Lu, die den Kopf schüttelte.

„Winterferien. Ich muss erst im Januar wieder hin, ist ziemlich entspannt."

„Oh. Stimmt."

„Kann ich dich was fragen?"

„Klar. Immer."

„Wieso Eleanor?"

Eleanor Rigby. Das war Moms Lieblingslied von den Beatles."

Sie hielt mir die Hand hin und ich griff nach ihr. Sie war warm, ein wenig schwitzig, aber es war okay. Sie stand auf und zog mich mit einem Grinsen im Gesicht auf die Beine, bevor sie meine Hand losließ.

Pfeifend ging sie in Richtung Bücherregal, kramte eine CD heraus und legte sie in ihren CD-Player. „Tanzt du mit mir zu den Beatles, Eleanor?"

Ich blieb fast eine Woche. Es war schön, bei Lucie zu leben. Anders, als ich es mir immer vorgestellt hatte, aber trotzdem schön.

Ich war nicht die, auf die sie abends wartete, und nicht die, neben der sie einschlief und aufwachte, aber das musste ich nicht sein.

Es reichte, so viel bei ihr sein zu können. Einmal brachte Tara Cupcakes von der Arbeit mit und ein anderes Mal ging sie Filme aus der Videothek holen und Himmel, war es schwer, einen Groll gegen diese Frau zu hegen. Sie war viel zu nett, um sie immer stinkig anzustarren, nur weil sie hatte, was ich wollte.

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now