Vierzehn

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Es war mittlerweile April, aber es regnete weniger als sonst. Marc und ich hatten vor einer Woche unseren Jahrestag gefeiert, mit Kindersekt, weil er dem Alkohol abgeschworen hatte und ich gezwungenermaßen ja auch. Er hatte bis jetzt durchgehalten, anders als die anderen Male. Er kam nicht mehr so oft spät nach Hause, er lobte mein Essen, er warf nichts nach mir, ich hatte keine neuen blauen Flecken. Wir waren nicht perfekt, weil wir das nie gewesen waren und es auch nie sein würden, weil nichts perfekt war, aber irgendwie funktionierten wir wieder. Irgendwie hatten die viele Scherben wieder zusammengefunden. Es war nicht so, dass ich ihn jetzt wieder liebte. Ich hasste ihn nur weniger. Gerade war er für zwei Wochen geschäftlich in New Jersey und ich hatte oft Zeit, in den Park zu gehen, oder in die Bibliothek. Ich hatte oft Zeit, mich mit ihr zu treffen, ohne, dass er es je herausfinden würde. Und eigentlich lag es mir schwer im Magen, zu lügen, aber ich wusste, dass die Wahrheit alles kaputtmachen würde.

Der Geruch von Frühling lag in der Luft. Es war warm, die Sonne schien, was ich zugleich mochte, aber auch hasste. Warme Temperaturen bedeuten einerseits, dass ich keine Pullover mehr tragen konnte, andererseits, dass ich jetzt mit Lucie picknicken gehen konnte.

Lucie liebte Picknicken.

Und ich liebte es, neben ihr auf einer Picknickdecke zu sitzen, mit Massen an Beeren und Gebäck und Sonnenschein. Ich liebte es, sie zu beobachten, wie sie den glitzernden See skizzierte und ich liebte es, dass sie auch mich zeichnete und das Blatt herausriss und es mir in die Han drückte.

„Diese qualitativ hochwertige Kunst gehört eigentlich in ein Museum...", fing sie an, „aber ich bin heute nett. Also kannst du's behalten."

Sie machte Scherze, aber ich fand wirklich, dass ihre Kunst es verdient hatte, in einer Galerie zu hängen. Ich fand mich normalerweise nicht hübsch, nicht im Spiegel und nicht auf Fotos. Aber wenn sie mich zeichnete, dann fühlte ich mich schöner und wertvoller als sonst je.

„Ich fühle mich geehrt." Sie lachte leise, aß eine Blaubeere und richtete den Blick wieder in Richtung See. Ich musste mitlachen, sah aber lieber sie an als das Gewässer.

Sie war schön, sie war so wunderschön. Ich hätte hunderte von Gedichten über sie schreiben können, nein, wahrscheinlich sogar tausende, und es wären immer noch nicht genug gewesen. Es gab nichts, was ihr gerecht werden würde. Sie war so schrecklich schön, wenn die Sonne auf ihre blasse Haut schien, und Scheiße, war sie schön, wenn sie ihre Haare zu einem Dutt band und ihre Stirnfransen richtete.

Lucie war der Inbegriff von Schönheit.

Und ich war der Inbegriff eines Feiglings. Ich hätte es ihr so gerne gesagt, aber jedes Mal, das ich kurz davor war, blieben mir die Worte im Hals stecken, ich schaffte die zwei Zentimeter nicht. Ich bekam es nicht und nicht hin, egal wie sehr ich wollte. Also blieb ich stumm und ich starb jedes Mal ein bisschen mehr, wenn sie mich ansah. Gott, war sie schön, wenn sie in den Muffin biss, fast so schön wie in den Momenten, in denen sie über meine schlechten Witze lachte oder die Welt beschrieb, als wäre sie ein Kunstwerk. Sie spielte an ihrer Kette herum, ein Lederband mit einem Amethysten. Die war von ihrer Schwester, so viel wusste ich

„Lass' uns schwimmen gehen", sagte sie irgendwann und sofort wollte ich ablehnen, mich wehren. Ich hatte Schwimmen nie besonders gerne gemocht. Vielleicht, weil ich nicht gerne leicht bekleidet war.

„Lu, ich hab' überhaupt kein Schwimmzeug dabei."

„Na und?" Sie grinste breit, stand auf und reichte mir die Hand. Ich nahm sie und ließ mich auf die Beine ziehen, wenn auch widerwillig. „Unterwäsche wirst du ja wohl tragen. Da gibt's doch kaum einen Unterschied."

„Ja, aber..."

„Nichts aber."

Ich war kein spontaner Mensch, wirklich nicht. Ich plante gerne alles penibel durch, bereitete mich auf alle möglichen Situationen vor. Lucie tat alles spontan. Sie war aus einer Laune heraus von Houston nach Seattle gezogen, hatte sich mit sechzehn von ihrer besten Freundin ein Tattoo stechen lassen. Ein kleines ‚AJ' am linken Knöchel. Ich wusste nicht, wofür es stand, und ich hatte auch noch nie gefragt.

„In Ordnung."

Sie zog sich das rosa Kleid über den Kopf und sah dabei so anmutig aus, dass ich stockte. Ich hatte Mühe, nicht zu starren, während ich meine Bluse aufknöpfte und sie aus ihren Schuhen schlüpfte. Vielleicht merkte sie, dass ich wegen ihr kaum atmen konnte. Ich hoffte, dass es nicht so war.

„Alles okay?", fragte sie und nahm ihre Kette ab. „Nicht, dass sie noch verloren geht."

„Alles super", sagte ich und zog meinen Rock aus. Lucie lächelte mich an und ich schluckte leise. Wie gerne ich sie gehalten hätte, einfach nur gehalten. Für immer, bis wir beide nicht mehr ein sie und ich waren, sondern ein wir.

„Cool." Sie griff wieder nach meiner Hand. Ihre Haut war warm, ein bisschen schwitzig. Das war okay, ich war mir sicher, dass meine noch viel schlimmer war.

Das Wasser war kühl und beruhigte mich ein wenig, fror meine Gedanken ganz kurz ein. Ich ließ mich auf dem Rücken treiben und beobachtete die Raben, die über uns flogen.

„Lu?", fragte ich irgendwann. Sie schwamm näher zu mir. „Deine Lippen sind blau", merkte ich an.

„Das Wasser ist auch arschkalt", erwiderte sie darauf. Ich zog sie näher zu mir und mein Atem setzte kurz aus. Sie war so nah, so nah, so nah. Zwei Zentimeter. Zwei Zentimeter, Betty. Das schaffst du. Ich atmete leise aus und strich Lucie eine Strähne ihres nassen Haares aus dem Gesicht.

„Du bist so schön", flüsterte ich. Ihre Mundwinkel zuckten, in ihren Augen lag ein Lächeln.

„Ist es...Betty, ist es okay, wenn ich dich küsse?"

Ich antwortete, indem ich meine Lippen auf ihre legte, und in dem Moment war alles so leicht, so federleicht. Es fühlte sich gut an, Lucie zu küssen, es fühlte sich richtig an. Als wäre sie die einzige Person, die ich je küssen sollte.

Bis es sich auf einmal so schrecklich falsch anfühlte. Bis Marc vor meinem inneren Auge aufblitzte und ich mich von Lucie löste. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht, aber ich konnte es nicht erwidern. „Tut mir leid, ich..." Ich pausierte kurz. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte, weil nichts die Situation irgendwie gerettet hätte. „Ich kann nicht." Ich schluckte. „Ich kann nicht dich...und gleichzeitig...das geht nicht."

„Ich versteh' das. Schon gut." Es war nicht gut, nichts war gut, überhaupt nichts. Ich hatte Lucie geküsst, hatte so getan, als stecke kein Ring an meinem Finger. Scheiße. Sie hatte es nicht verdient, dass sie mein Geheimnis war. Sie hatte es nicht verdient, dass ich sie liebte, aber nachts neben ihm schlief. Ich hatte nicht das Recht dazu, ihr sowas anzutun. Weil es Marc gab und das konnte ich nicht ignorieren und ich glaubte, sie konnte es genauso wenig. Und sie hatte es nicht verdient, nicht im Geringsten. Lucie war zu gut.

„Ich gehe jetzt lieber", sagte ich und zog meine Hände zurück zu mir, schwamm langsam in Richtung Ufer. Ich drehte mich zu ihr um und sah sie stumm an.

Sie wischte sich den verschmierten Lippenstift von der Wange. „Ist wohl doch nicht kussecht. Ich schreib' 'ne Beschwerde", sagte sie und lächelte schwach. Das verschwand wieder, als sich Tränen in meinen Augen bildeten. Ich wusste, dass sie bloß die Stimmung lockern wollte, aber es tat weh. Es tat weh, dass wir uns geküsst hatten und dass dabei nicht auf magische Art und Weise alles gut geworden war. Was hatte ich auch erwartet? Dass Marc sich in Luft auflösen würde, einfach mir nichts, dir nichts? So funktionierte das nicht, und das wusste ich auch. „Betty?"

„Ich gehe jetzt lieber", wiederholte ich, als wäre es ein Mantra. Ich stand mittlerweile im weichen Gras und wrang mir das Haar aus. Meine Bluse wurde klatschnass, als ich sie anzog, mein Rock Gott sei Dank nur feucht.

„Wir müssen nie wieder drüber reden, wenn du nicht willst", bot sie an.

„Nein", widersprach ich. „Nein, ich will gerne drüber reden. Lass' uns drüber reden. Irgendwann. Wenn ich...andere Dinge geklärt habe."

„Marc."

Ich nickte leicht und wischte die Tränen weg. Mehr konnte ich ihr nicht als Antwort geben, und ich glaubte auch nicht, dass viele Worte es besser gemacht hätten.

„Bis irgendwann, Betty."

„Bis irgendwann, Lu." Ich hob die Hand und drehte mich um. Die Sonne war warm, aber trotzdem war mir nichts als kalt. Mir war so verdammt kalt und Lucie war so warm und ich wollte, dass sie mich in ihren Armen hielt, aber das war so falsch.

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now