Sieben

110 13 25
                                    

Vor zehn Jahren

Ich mochte es hier nicht. Sarah war seit genau einundzwanzig Minuten nirgendwo aufzufinden und sonst kannte ich hier niemanden, mit dem ich hätte reden können. Ich war einsam und gelangweilt. Fühlte mich wie bestellt und nicht abgeholt. Sie hatte mich allein gelassen und ich wollte gar nicht wissen, wo sie war. Denn die offensichtliche Antwort war Brads Bett, nackt, und das wollte ich mir nicht vorstellen.

„Hey", hörte ich hinter mir und zuckte zusammen. „Hab' ich dich erschrocken? Tut mir leid."

„Schon okay", murmelte ich und drehte mich um. Sah direkt in Marcs Augen, die mich an Kaffee und Rosies Pudding erinnerten. Sie füllten meinen Bauch zumindest mit genauso viel Wärme.

„Du scheinst nicht sonderlich viel Spaß zu haben", sagte er und hielt mir die Hand hin. Ich erstarrte, wie vorhin schon. Marc löste irgendetwas in mir aus, das mich komplett unfähig machte, zu funktionieren.

„Gut erkannt", erwiderte ich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte.

„Ich zeig' dir was Besseres, komm' mit."

Mir war immer schon eingetrichtert geworden, nicht mit Fremden mitzugehen. Von Mom, von Rosie, sogar von Sarah. Aber Marc war mir gar nicht fremd. Es fühlte sich an, als würden wir uns seit Jahren kennen. Als hätte das Universum nur darauf gewartet, dass wir uns trafen. Als wäre es unser Schicksal.

„Was hast du vor?", fragte ich also und griff nach seiner Hand. Darüber hatte ich schon seit Stunden nachgedacht. Hatte mir gewünscht, endlich wieder seine Haut auf meiner zu spüren.

„Wirst du schon sehen. Es wird dir gefallen, versprochen." Er zog mich mit sich mit. Weg von den Leuten. Weg von der lauten Musik, weg von den roten Bechern am Boden, weg von allem. Da waren nur noch er und ich und die kalte Nachtluft, in der so viel schwebte. Es war November und es hatte nicht einmal fünf Grad, aber Marcs Berührung machte alles in mir warm. Brachte alles in mir zum Brennen.

„Warte hier. Bin gleich wieder da", sagte er und ließ meine Hand los. Nein, halt' mich, wollte ich sagen, wollte nicht, dass er ging. Wollte, dass er für immer bei mir blieb.

Ich wartete. Und wartete. Es fühlte sich an wie sieben Jahre, auch wenn bestimmt nicht mehr als fünf Minuten verstrichen.

Es roch nach Waffeln, als Marc zurückkam. Wie lange hatte ich schon keine Waffeln mehr gegessen? Lang. Echt lang. Sarah ging keine mit mir essen, weil sie zu viele Kalorien hatten, und Dad mochte sowieso kein Essen, das Spaß machte. Nicht einmal Rosies Desserts gefielen ihm. „Ich war mir nicht sicher, was du magst, also hab' ich einfach die mit Erdbeeren gekauft. Ich denk, jeder mag Erdbeeren", erklärte Marc und hielt mir einen Pappteller hin.

„Danke", sagte ich knapp und folgte ihm zu einer Parkbank. Überlegte, worüber ich mit ihm reden könnte. Die Schule? Nein, das fand er bestimmt langweilig. Damit hatte er schon abgeschlossen. Das Buch, das ich gerade las? Aber für Jane Austen brannte er sicherlich nicht.

„Wie alt bist du?", fragte er aus dem Nichts und ich starrte kurz stumm auf meine Waffeln. Ob ich lügen sollte? Ob er mich mehr mögen würde, wenn ich achtzehn sagen würde? Irgendwann, nach einer unangenehm langen Stille, entschied ich mich für die Wahrheit.

„Sechzehn. Aber in einem Monat werd' ich siebzehn." Siehst du, ich bin kein kleines Kind.

Er nickte leicht. „Okay."

Ich fragte ihn nicht, wie alt er war. Er sagte es auch nicht. So lebte in meinem Kopf weiterhin die Illusion, dass es nicht verboten gewesen wäre, hätte er mich geküsst. Wäre es aber. Es war eigentlich verboten, dass Sarah und Brad sich küssten, und Sarah war älter als ich. Aber das Gesetz konnte gegen Liebe nichts tun, sagte sie immer. Nichts konnte gegen Liebe etwas tun.

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now