Sechzehn

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Marc schlief, davon ging ich zumindest aus. Ich konnte nicht, konnte einfach meine Augen nicht zumachen. Mein zu schnell pochendes Herz und mein verwirrtes Gehirn hielten mich wach.

Ich wollte weg. Oh, wie gerne ich wieder die Flucht ergreifen wollte, einen Ausweg suchen. Ich war so gut darin, davonzurennen, alles zurückzulassen, was mir wehtat.

Seit unserem Gespräch-Streit oder Streit-Gespräch oder eigentlich nur Streit vor drei Wochen war alles wie ein Wasserfall nach unten gestürzt. Wir waren abgestürzt. Wir redeten nicht, nie. Er ging morgens früh zur Arbeit, kam zum Abendessen wieder heim, aß, ging wieder.

Ich putzte, las, kochte, aß, ging früh schlafen. Ich schrieb Briefe, die ich jedes Mal nach der ersten Zeile wieder verwarf.

‚Liebe Lucie,

ich ka ich will so nicht mehr weitermachen' fühlte sich zu klischeehaft an.

‚Hey Lucie!

Hilfe' war auch nicht besser.

Und ‚Du bist die Sonne, die in meinem Herzen aufgeht' klang viel zu sehr, als hätte ich es von Shakespeare gestohlen.

Egal wie oft ich es versuchte, ich fand keinen Ansatz.

Er atmete ruhig und auch als ich meine Hand vor seinem Gesicht bewegte, zuckten seine Augenlider nicht. Sicherlich schlief er. Langsam und so leise ich konnte stand ich auf. Ich verkniff mir ein Fluchen, als ich mir die Hüfte am Nachtkästchen stieß.

Bitte wach nicht auf. Bitte.

Der Boden knarzte leicht auf meinem Weg zur Türe. Ich ging zum Putzschrank, nahm das Buch heraus, das Lucie mir geschenkt hatte, überprüfte, ob ich ihren Ring trug. Auf leichten Füßen ging ich ins Bad und kramte aus der Schmutzwäsche das Top hervor, das ich zusammen mit ihr gekauft hatte. Ich zog es über, zusammen mit einem hellblauen Rock, der mich an ein Kleid erinnerte, das sie tragen würde. Papier und Stift fand ich im Wohnzimmer und stopfte sie zusammen mit meinen anderen Habseligkeiten in eine Stofftasche. Ich warf einen Blick zu der leicht geöffneten Schlafzimmertür. Es hätte zu viel Lärm gemacht, sie zu schließen.

Schön weiterschlafen, Marc. Machst du gut so.

Ich atmete leise aus, sagte mir selbst, es einfach zu tun und trat hinaus in den Hausflur. F<est entschlossen, dass dies mein erster Schritt in die Freiheit war. Mein erster Schritt zu ihr.

Draußen war es warm, war mir auch in meinem notdürftigen Outfit angenehm.

Ich hatte Glück und musste nur sieben Minuten auf den Bus warten. Um 5:32, laut meiner Armbanduhr, stieg ich ein und lächelte dem Fahrer zu, bevor ich mich auf einem der Zweierplätze niederließ. Und dann fing ich an zu schreiben. Ich verwarf mehr, als ich tatsächlich zu Papier brachte, aber als ich bei Lucies Station ausstieg, war es sowieso zu spät, um jetzt wieder zu kneifen. Ich musste es tun, ich musste es einfach tun. Jetzt.

Die Kugelschreibertinte auf meiner rechten Hand erinnerte mich an die Beleidigung an alle Schriftsteller, die in meiner Tasche darauf wartete, von Lucie gelesen zu werden. Ich schüttelte leicht den Kopf und fragte mich, ob ich mir mein literarisches Talent damals nur eingebildet hatte. Niemals würde das reichen. Nie im Leben würden ihr diese zusammenhangslosen Zeilen irgendwas zeigen, geschweige denn bedeuten. Ich starb fast, als ich die abgenutzte Klingel betätigte. Die Tür öffnete sich, ich trat auf wackligen Beinen ein. Es roch nach Seife und Chlor. Anscheinend wurde immer samstags geputzt.

Stiege vier. Zu der wirst du es ja wohl noch schaffen.

Mir kam eine ältere Dame entgegen. Ich nickte ihr zu und murmelte ein ‚Guten Tag'.

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now