Zweiundzwanzig

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Lucie rief mich nach diesem Abend, der mehr als nur ein paar Mal in meinem Gedächtnis aufblitzte, immer wieder an. Oft, zu oft. So häufig, dass ich fast Angst hatte, Marc würde es irgendwann mitbekommen. Wenigstens kontaktierte sie mein privates Handy, nicht das Festnetztelefon, das Marc und ich uns teilten. Dann hätte er es definitiv mitbekommen. Egal wie oft sie anrief, ich ging jedes Mal nicht ran und jedes Mal tötete es meine Seele ein bisschen. Heute hatte sie angerufen, kurz bevor ich ins Bett gegangen war. Ich hatte mein Telefon einfach klingeln lassen und dabei das größte schlechte Gewissen aller Zeiten bekommen.

Jetzt schlief ich, so friedlich wie schon lange nicht mehr. Bis ein lautes Poltern mich aufweckte. Mein Kopf brummte, als ich die Augen öffnete und mich aufsetzte, mein Bauch fühlte sich an, als würde jemand in ihm herumspringen. Jetzt war nichts mehr friedlich.

„Marc?", murmelte ich, als sich die Tür öffnete. Er war am frühen Abend gegangen und ich hatte nicht wirklich erwartet, dass er diese Nacht noch zurückkommen würde. Mir war auch entfallen, weshalb er überhaupt das Gebäude verlassen hatte. Ally?

„Heeey", grüßte er mich und sackte neben mir aufs Bett. „Hab' ich dich aufgeweckt? Sorry."

„Wo warst du nochmal?", fragte ich leise und legte den Kopf auf meiner Hand ab.

Er zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Ist das nicht vollkommen egal? Wichtig ist, dass ich jetzt hier bin." Er legte den Arm um mich. Zu viele Gerüche auf einmal stiegen in meine Nase. So viele, dass ich mich übergeben wollte. Oder würde. Ich war mir noch nicht ganz sicher. „Schatz", flüsterte er mir ins Ohr und streichelte meine Hand. Ich wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Nichts.

„Ich bin müde, Marc", sagte ich leise. Müde und erschöpft und einfach nur erledigt. Und müde und das hast du doch schon gesagt.

„Es tut mir leid, Schatz", sagte er jetzt. Nein. Tat es nicht. Ich wusste, dass es das nicht tat, und egal, was er mir jetzt schenken würde, ich würde ihm nicht verzeihen. „Ich liebe dich." Jedes Mal, wenn er diese drei Worte sagte, fühlten sie sich falsch an. Weil sie eigentlich nicht stimmten, er aber trotzdem versuchte, diese Lüge aufrecht zu erhalten. Nur scheiterte er kläglich. Wir beide glaubten ihm nicht. „Es tut mir leid. Das mit Lucie..." Er brach ab, machte kurz die Augen zu und rieb sich die Schläfen. Dann nuschelte er: „Das tut mir auch leid. Wirklich, ganz...leid. Kannst du ihr das ausrichten?"

Es verwirrte mich, dass er mir kein Päckchen in die Hände legte. Normalerweise war Marcs Strategie, sich meine Verzeihung einfach zu kaufen. Normalerweise nahm ich das auch an und vergaß die Sache. Lucie hatte es nicht verdient, vergessen zu werden.

„Klar, mache ich." Eigentlich hätte er es verdient, dass ich ihn zurechtwies, weil Lucie mehr verdient hatte als eine halbherzige, über mich vermittelte Entschuldigung. Er hatte es verdient, dass ich ihm das erklärte. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich darauf keine Lust. Ich wollte nicht einmal reden. Alles, was ich in dem Moment wollte, war Schlaf.

„Danke", war seine mehr als stumpfe Reaktion.

„Bitte." Ich rollte mich wieder ein. Marc legte sich neben mich, ohne sich umzuziehen. „Ist dir nicht heiß? Das Hemd ist doch jetzt schon verschwitzt", sagte ich, um ihn irgendwie...friedlich darauf hinzuweisen, dass er einfach nur stank.

„Ne. Is' eigentlich recht gemütlich so." Er führte seine Hand langsam über meine Hüfte, woraufhin meine Hände schwitzig wurden und meine Nackenhaare sich aufstellten. Nicht auf die gute Art, die ich als Teenager verspürt hatte. Eher machte sich kalte Angst in mir breit.

„Für mich nicht", sagte ich trotzdem, obwohl ich eigentlich genau wusste, dass das keine sonderlich gute Idee war. Nicht nur nicht-gut, es war eine beschissene Idee.

„Und das soll mich jetzt jucken, weil...?" Jegliche Wärme und Zärtlichkeit, die vor einigen Minuten noch in seiner Stimme gelegen hatte, war verschwunden. Ich hatte wieder mal nicht nachgedacht und seinen Schalter umgelegt, irgendeinen Knopf gedrückt, was seine Laune gekippt hatte. Anscheinend war das mein verstecktes Talent.

Dummes Talent. Dümmer als ich. Wobei, ging das?

„Weil ich es schön fände, wenn du auch Rücksicht auf meine Gefühle nehmen würdest." Dumm, dumm, dumm. Sogar idiotisch. Rücksicht auf meine Gefühle nehmen? Klar. Wann hatte er das je getan? Wann? Er war wichtig, zumindest wichtiger als ich, das war schon früh in unserer Ehe klar geworden. Ich nahm das meist so hin, aber manchmal hatte ich anscheinend Lust, aufmüpfig zu werden.

„Ich fühle mich so wohl. Ist dein Problem, wenn's sich stört." Er stieß tief Luft aus und rollte sich auf den Rücken, weg von mir. Ein wenig entspannte ich mich deshalb, obwohl mir immer noch schlecht war. Wenigstens sah er mich jetzt nicht mehr an, was mir einen Funken von Sicherheit verlieh. Das schwache Licht, das er vorhin angeknipst hatte, löschte er jetzt. „Nacht", sagte er. Die schlechte Laune war ihm anzuhören, er gab sich nicht einmal Mühe, sie zu verstecken.

Ich hätte ihm einfach eine gute Nacht und schöne Träume wünschen sollen und es damit auf sich beruhen lassen können. So schwierig wäre das nicht gewesen. Aber nein, natürlich musste ich wieder meinen Mund aufmachen und irgendwelche dummen, dummen, dummen, die dümmsten Worte rauskommen lassen. Lernte ich eigentlich je dazu? Hatte Marc mir nicht schon genug beigebracht, in all den Jahren? Scheinbar nicht, denn ich sagte: „Bitte zieh' dich um. Sonst schläfst du auf der Couch."

„Auf der Couch?" Es war dunkel, und ich war von ihm weggedreht, also sah ich nicht, was sich in seinem Gesicht abspielte. Seinem Ton nach zu urteilen nichts Schönes. „Hm...nein." Ich spürte seine Hände auf meinem Rücken, was nicht wirklich zu seinen Worten passen. „Aber vielleicht schläfst du ja woanders." Es klang fast wie ein Singsang, als würde er sich freuen.

„Ich kann gerne-" Meine beste Option war, mich wieder einmal zu beugen, und das hatte ich auch vor.

„Nein. Lass' mich das übernehmen." Es klang irgendwie wie eine Bitte.

Ich verstand einen Moment lang nicht ganz, was er meinte. Bis ich auf dem harten Boden landete und der Raum begann, sich zu drehen. Unser Bett war nicht allzu hoch, trotzdem hatte Marc mir genug Schwung gegeben, um den Aufprall schmerzen zu lassen. Ich blieb liegen, will ich glaubte, Sitzen würde es verschlimmern. Gebrochen brachte ich hervor: „Wozu war das gut?"

„Nur eine kleine Lektion, war wohl nötig." Seine Füße landeten neben mir, verschwommen konnte ich sie sehen. Meinem Gehirn war es aber zu viel, sich tatsächlich zu konzentrieren. Ich hörte, wie er zum Fenster ging und die Vorhänge zuzog, bevor er sich wieder in meine Richtung bewegte. „Aber ich glaube, du brauchst noch eine Zweite."

„Ich hab's schon..." Verstanden, wollte ich dann noch sagen, doch Marc zog mich am Kragen meines Nachthemdes auf die Beine, bevor ich das Wort rauskriegen konnte. Er sah mir in die Augen und obwohl er lächelte, verspürte ich nichts als Panik. Oder gerade, weil er lächelte?

„Sei' am besten ganz leise...", murmelte er und strich mir zärtlich die Haare aus dem Gesicht. „Wir wollen den Nachbarn doch keine Sorgen bereiten." Den Nachbarn war es sowieso absolut egal, was er mit mir tat, was er mir antat schon seit wir eingezogen waren. Eigentlich war mir gar nicht mehr bewusst, wann ich sie das letzte Mal gesehen hatte, geschweige denn ein Gespräch mit ihnen geführt. Es war egal. Ihnen war es egal. Mir nicht.

Ich wünschte, mir könnte es auch egal sein wie ihnen. Ich wünschte, ich müsste mich gar nicht damit befassen und könnte es einfach ausblenden. Aber den dumpfen Schlag auf den Kopf konnte ich nicht ignorieren. Ich wollte irgendetwas sagen, aber bevor ich Zeit hatte, meine Gedanken zu sammeln, folgte der nächste Schmerz.

Marcs flache Hand auf meiner Haut brachte meine Wange zum Brennen und meine Augen zum Tränen. Vor beidem konnte ich mich nicht verschließen, geschweige denn retten. Ich konnte mich einfach nicht retten, egal was kam. Ebenso wenig vor dem erneuten Aufschlag und dem stechenden Schmerz, der darauffolgte. Und den Tritt gegen meinen Hinterkopf bekam ich gerade noch so mit, bevor alles schwarz wurde und ich nicht nur in der Dunkelheit, sondern auch in mir selbst versank.

Marcs Anruf an die 911 hörte nur mein Unterbewusstsein.

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now