Neunundzwanzig

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Es war nur eine Millisekunde. Eine Millisekunde, in der ich dumm war. In der ich nicht nachdachte. Nicht aufpasste. Eine Millisekunde, die mir alles kaputt machte.

Mittlerweile hatten wir November, Thanksgiving, um genau zu sein. Michael liebte die Dekorationen, die ich in der Wohnung verteilt hatte, und sein Strahlen war alles, was ich brauchte.

Jedes Jahr kamen Marcs Eltern zu uns, um mit uns zu feiern.

Jedes Jahr endete der Abend damit, dass Marc und ich stritten.

Dieses Jahr hatte ich das Gefühl, es würde anders sein. Oder zumindest die Hoffnung. Im Moment lief alles gut, Michael war da, wir waren glücklich. Es gab keinen Grund für uns zu streiten.

Wir saßen um den Esstisch, Marcs Mutter fing an zu reden. „Ich bin dankbar für Familie. Und meine neue Waschmaschine." Sie lachte leise, der Rest von uns rang sich ein Lächeln ab.

„Ich bin dankbar dafür, dass ich endlich einen Enkel habe", machte ihr Mann weiter und klopfte Marc auf den Rücken.

Marc lächelte leicht und murmelte, dass er für mich und Michael dankbar war, was ein Awww aus seiner Mutter herauslockte. „Elizabeth! Bleibst nur du übrig!", forderte er mich auf.

„Ich...uhm..." War ich dankbar für Marc? Oder eher ‚okay damit, dass er existiert'? Im Endeffekt entschied ich mich für die einfachste Antwort: „Ich bin dankbar, dass Michael wohlauf ist."

Der Rest des Abendessens verlief wie jedes Jahr auch. Marc lobte meine Cranberrysoße – ich machte sie selbst, anders als Lucie, die auf die von Whole Foods schwor. Ich fragte mich, ob sie und Tara zusammen aßen. Ob sie bei jemandem zu Besuch waren, oder jemand bei ihnen.

Im Endeffekt war das egal. Weil ich eben nicht bei Lucie war, ich war bei Marc, und ich würde nichts anders machen als die anderen Jahre. Unsere Routine funktionierte gut.

Marc wiederholte immer wieder, dass er sich schon auf den Nachtisch freute. Sein Dad fragte nach unserer Meinung zur Parade. Seine Mom redete über ihre Freundinnen und deren Truthahn und erwähnte drei Mal, dass ihrer viel besser war, was laut Marc auch stimmte. Sein Vater erzählte von der scheinbar absolut langweiligen Thanksgiving-Feier, die sein Büro letzte Woche veranstaltet hatte.

Aber Marc und ich stritten nicht, worüber ich vermutlich nicht so überrascht hätte sein sollen.

Wir gingen einfach ins Bett.

Und am nächsten Morgen aßen wir Pumpkin Pie zum Frühstück und hingen die Dekorationen ab.

Und dann kam die Millisekunde.

Marc trug die zwei kleinen Kisten mit der Weihnachtsdeko nach oben und stellte sie auf dem Teppich ab.

„Ich überlass' das mal lieber dir", verkündete er. „Keine Ahnung, was gut aussieht."

Ich nickte bloß und kniete mich hin. Bevor ich überhaupt anfangen konnte, rief Marc aus der Küche: „Wer ist Tara Knightley und wieso schreibt sie dir?"

„Keine Ahnung." Ich kannte keine Tara. Dachte ich in dem Moment zumindest.

„Kann ich's aufmachen?"

„Klar." Eine Millisekunde ohne Nachdenken, ohne Aufpassen.

Ich hörte, wie das Papier des Umschlags zerriss. Marc räusperte sich und begann, vorzulesen.

„Liebe El,

ich dachte es ist besser, wenn ich dir unter Taras Namen schreibe. Dann kriegt Marc nichts mit."

In dem Moment fiel mir ein, dass ich sehr wohl eine Tara kannte. „Hör auf zu lesen", murmelte ich, obwohl ich wusste, dass er den Brief schon überflogen hatte. Dass es sowieso schon viel zu spät war.

Er machte einfach weiter. „Ich vermisse dich so sehr, dass es wehtut. Manchmal denke ich, ich sehe dich, aber du bist es nie." Marc schnaubte leise. Ich hörte, wie er näher zu mir kam. „Blablabla...bitte schreib' mir...blabla...in Liebe, Lu."

„Marc, ich..." Er zog mich am Stoff meines Oberteils hoch und drehte mich, sodass ich ihm ins Gesicht sah.

„Ich dachte ich hätte klar und deutlich gesagt, dass du dich von der fernhalten sollst", murmelte er in mein Ohr. Sein heißer Atem auf meiner Haut ließ mich zittern.

„Tue ich auch." Ich musste schlucken. „Ich hab' sie seit Monaten nicht gesehen, okay?"

„Und das soll ich dir glauben?"

„Es stimmt."

Er verdrehte die Augen und ließ mich los, woraufhin mein Körper sich minimal entspannte. „Du hast Glück, dass Michael gerade da ist", sagte er und nickte zu dessen Krippe, die die letzten paar Tage über im Wohnzimmer gestanden hatte – so konnten Marcs Eltern ihn öfter sehen und auch nachts mal nach ihm sehen, wenn er weinte. Marc richtete den Blick wieder auf mich. „Aber nächstes Mal ist er das vielleicht nicht."

Definiere LiebeWhere stories live. Discover now