Pochemuchka

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November ist rauchblau. Es ist sehr windig und ich muss mein Notizbuch festhalten, damit die Seiten nicht immer umgeblättert werden.
Die Bäume im Park sind mittlerweile kahl und die herabgefallenen Blätter sind nun allesamt zu dem braunen Matsch verklumpt.

Die Frau mit dem Terrier ist heute nicht da. Vielleicht ist es ihr zu windig und das Wetter würde ihre Haare trotz der Obsttüte durcheinander bringen. Meine Haare sind an mir das Einzige, das durcheinander ist. Immer. Meine Haare und meine Gedanken.

Meine Gedanken kann ich zumindest etwas ordnen, indem ich sie in meine Notizbücher schreibe. Das für November ist rauchblau. Mir fehlt mein orangefarbenes Oktoberheft, denn darin stehen Herbstlaubtrittvergnügen und hoppípolla. Ich lese diese Seiten gern noch einmal, doch das Heft steht zu Hause im Regal neben den anderen.

Dr. Cooke hat gesagt, ich soll mir ein gelbes Kleidungsstück kaufen, wenn ich Lust darauf habe. Seitdem dieser Henry mir gesagt hat, dass ich mir gelbe Gummistiefel kaufen soll, muss ich oft an gelbe Kleidung denken.

Aber gelbe Gummistiefel wären vollkommen absurd.

Ich besitze nun einen senfgelben Pullover. Er ist ganz weich und ich liebe ihn.
Meine Schwester Jennifer hat ihn mir vor zwei Wochen gegeben, nachdem ich sagte, ich denke darüber nach, mir etwas Gelbes zu kaufen. Sie versteht viel von Mode und war zunächst überrascht über meine Überlegungen. Umso begeisterter war sie, dass ich tatsächlich mal etwas von ihr angenommen habe, das nicht schwarz oder grau ist.

Eine weitere Windböe fährt durch meine dunklen Haare und gerade noch rechtzeitig fange ich mein Heft auf, bevor es mir vom Schoß fliegt.

„Sitzt du eigentlich jeden Tag hier?", fragt plötzlich jemand neben mir. Henry. Bei meinen Gedanken über gelbe Kleidungsstücke ist mir gar nicht aufgefallen, dass er sich neben mich gesetzt hat. Er trägt wieder den schwarzen Mantel und diese vielen Ketten. Seine Haare bewegen sich nur ganz leicht im Wind, die Haarpflegeprodukte halten sie offenbar an Ort und Stelle. Wie lange er wohl dafür braucht?
„Ja", antworte ich.
„Warum?"
„Ich beobachte gern."
„Aber immer an der gleichen Stelle? Ist das nicht langweilig?"
„Es beruhigt mich."

Für einen Moment scheint er nachzudenken, zumindest ist er still. Es ist ungewöhnlich, dass er plötzlich still ist. Er redet sonst immer so viel. Die Stille beunruhigt mich.
„Ich habe einen gelben Pullover", sage ich, ohne dass er danach gefragt hat.
Er beugt sich etwas vor und greift an meinen Mantel.
Erschrocken zucke ich zurück. Was hat er vor?
Fragend blickt er mich an.
„Darf ich mal sehen?"
Ohne, dass ich etwas antworte, schiebt er den Kragen zur Seite und erhascht einen Blick auf den senfgelben Stoff.

Unterdessen beobachte ich sein Gesicht, das meinem gerade unnatürlich nahe ist. Seine braunen Augen haben kleine goldene Flecken und sind wieder dunkel umrandet. Seine Haut ist honiggolden und die kleinen schwarzen Haare um seinen Mund sehen ganz weich aus. Seine Nase ist gerade und seine Lippen wie von einem dauerhaften Lächeln umspielt.

„Er sieht sehr gut aus, zumindest das, was ich von hier aus sehen kann", sagt er schließlich und beugt sich wieder zurück. Ich nicke nur.
„Vielleicht kann ich ihn besser sehen, wenn du deinen Mantel ausziehst", schlägt er lächelnd vor.
„Es ist zu kalt, um den Mantel auszuziehen", antworte ich.
„Das stimmt, der Wind ist heute sehr stark. Aber wenn wir irgendwo einen Kaffee trinken gehen, ist es dort nicht so windig und du könntest den Mantel ausziehen."

Entsetzt sehe ich ihn an. Er will mit mir irgendwo hingehen? Ich sehe auf meine Uhr. Noch dreizehn Minuten bis ich mich auf den Weg zu Jennifer machen muss.
„Oh, du musst weg", stellt er fest. „Schade, dann vielleicht ein anderes Mal." Er setzt an, von der Bank aufzustehen.
„Kein Problem", höre ich mich sagen und bin selbst verwundert. Warum will ich mit diesem Fremden irgendwo hingehen?
„Okay, super. Hast du einen Vorschlag, wohin wir gehen können?", fragt er strahlend.
„Zweieinhalb Blocks von hier ist ein Café. Sie haben bis achtzehn Uhr geöffnet und Sitzmöglichkeiten für fünfzehn Personen. Es gibt auch laktosefreie und Sojamilch gegen Aufpreis", antworte ich.

Henry fängt an zu lachen.
„Hast du da mal gearbeitet?"
Ich schüttele verwirrt den Kopf.
„Nein, ich habe keine Ausbildung im Gastgewerbe."
Ich nehme mein schwarzes Smartphone aus meiner Manteltasche und schreibe meiner Schwester.

Jennifer Foster

Liebe Jenny,
ich werde unseren Termin
heute nicht wahrnehmen
können. Bis morgen,
Max

Gerade möchte ich mein Telefon wieder einstecken, als es auch schon klingelt.
„Hallo?", antworte ich, während Henry mich lächelnd beobachtet.
„Max, ist alles okay?", ruft meine Schwester besorgt in den Hörer.
„Ja, alles ist in Ordnung."
„Warum kommst du heute nicht?"
„Ich werde einen Kaffee trinken gehen."
„Max, geht es dir gut?" Ihre Stimme klingt fast panisch.
„Ja, Jenny. Ich melde mich später bei dir."
„Okay, wenn was ist, rufst du sofort an."

Ich lege auf und sehe in Henrys verwundertes Gesicht.
„Ist es wirklich okay, wenn wir einen Kaffee trinken gehen? Wenn deine Freundin wartet, möchte ich nicht dazwischen funken", erklärt er.
„Meine Freundin?", frage ich verwirrt.
„Sprachst du nicht gerade mit einer Jenny?"
„Jennifer ist meine Schwester."
Sein Gesicht erhellt sich merklich und er lacht wieder.
„Okay, Jennifers Bruder. Wollen wir?" Damit steht er auf und scheint darauf zu warten, dass ich ihm folge.

Ich verstaue mein rauchblaues Novemberbuch in meiner Tasche und stehe auf, um neben ihm herzugehen. Ich meide penibel die braunen Blättermatschklumpen, während sie Henry nicht zu interessieren scheinen.
„Also, Jennifers Bruder. Du sitzt jeden Tag auf dieser Bank?"
„Ja."
„Und du schreibst immer alles in dieses Buch?"
„Nein."
„Nein?"
„Nicht alles in dieses Buch. In ein Buch. Jeder Monat hat ein eigenes Buch."
„Und wenn es voll ist?"
Ich überlege kurz.
„Das ist noch nie passiert."
„Kein Wunder. Wenn du immer an der gleichen Stelle sitzt. Schreibst du nur Beobachtungen auf?"
„Nein, meistens auch meine Gedanken."
„Hast du nicht so viele Gedanken?"
„Ich habe viele Gedanken."
„Warum war dein Buch dann noch nie voll bevor der Monat vorbei ist?"

„Stellst du immer so viele Fragen?"
Henry lacht und nickt dabei.
„Ja, ich bin eine richtige Pochemuchka."
„Eine was?"
„Eine Pochemuchka. Das ist russisch für eine Person, die viele Fragen stellt. Manchmal auch zu viele."
Ich bleibe stehen und starre ihn an.
„Was ist jetzt?", fragt Henry. Noch eine Frage.
Wortlos greife ich in meine Tasche und hole mein rauchblaues Novemberbuch hervor.
Henry beobachtet mit einem verstehenden Lächeln und schiefgelegtem Kopf, wie ich trotz des starken Winds die heutige Seite suche und meinen Stift aus meiner Manteltasche ziehe.

Ohne, dass ich darum bitte, buchstabiert er mir das Wort und redet erst weiter, nachdem mein Notizbuch wieder sicher in meiner Tasche steckt.
„Wenn ich meine Gedanken in ein Buch schreiben würde, wäre es nach einem Tag voll", überlegt er.
Ich runzele die Stirn und glaube ihm. So viel wie er redet, muss es in seinem Kopf noch wirrer aussehen als in meinem.

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