Manabamáte

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Henry lächelt mich verführerisch an und murmelt: „Oh Gott, ich hatte gehofft, dass du das sagst."
Mein Kopf fühlt sich noch heißer an als zuvor und ich glaube, mir wird ein wenig schwindelig. Es ist nicht so, dass ich nicht will, dass Henry mich anfasst, aber mich hat noch nie jemand so angefasst. Bis ich Henry kannte, ja nicht mal ich selbst. Was, wenn ich irgendwas falsch mache? Ich wüsste zwar gerade nicht was, aber das ist ja vielleicht noch viel schlimmer. Und was, wenn er es sich plötzlich doch anders überlegt? Oder..

„Maxwell", unterbricht er den Sturm meiner Gedanken. „Du bist nervös, oder?"
Ich befeuchte meine Lippen mit meiner Zunge und nicke vorsichtig.
„Okay", sagt Henry und steht auf. „Das ist mir hier ohnehin alles zu unentspannt gerade. Das macht gar keinen Spaß. Wir verschieben es also und machen stattdessen etwas anderes."
Ich sehe überrascht zu ihm auf und spüre ein merkwürdiges Gefühl in meinem Bauch. Bei genauerer Analyse stelle ich fest, dass es sich um Enttäuschung handelt. Ich bin enttäuscht, dass Henry mich nicht berühren will. Auch, wenn er es nur jetzt gerade nicht will, wenn ich seinen Worten Glauben schenke.

„Was machen wir?", frage ich und versuche, meine Enttäuschung in meinem Bauch und nicht zu meinem Gesicht zu lassen. Eigentlich habe ich keine Lust, meine Wohnung zu verlassen.
„Hast du Netflix?", fragt Henry und ich schüttele den Kopf.
„Hmm, dachte ich mir", überlegt er mit der Hand an seinem Kinn. „Aber ein Tablet?" Jetzt nicke ich.
„Perfekt. Wir loggen uns mit meinem Netflix Account ein und schauen sinnlose Dokus. Dazu bestellen wir uns was zu essen. Pizza oder Chinesisch?"

Ich starre ihn überrascht an, denn ich weiß gerade nicht, was ich antworten soll. Ich habe gar keinen richtigen Appetit, denn mein Bauch ist voll mit den Kolibris, weil Henry wieder vor mir steht und so fröhlich ist wie immer und ein kleiner Teil ist noch gefüllt mit der Enttäuschung. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt etwas essen kann.
„I-ich bin gar nicht hungrig", antworte ich ehrlich. „Entscheide du."
Henry kichert.
„Klarer Fall von Manabamáte."
„Von was?"
Ich greife nun doch zu meinem weinroten Dezemberbuch, denn mittlerweile ist dies das dritte neue Wort, das ich von Henry lerne und ich habe Angst, sie hinterher zu vergessen.

„Manabamáte, das ist Rapanui für den fehlenden Appetit, wenn man frisch verliebt ist", erklärt Henry. „Hab ich auch, aber ich dachte, es wäre trotzdem klüger, etwas zu essen."
Mit großen Augen sehe ich ihn an. Hat er gerade-?
„Ja, Maxwell", strahlt er mich an. „Ich bin in dich verliebt. Und ich denke, dir geht es genauso. Also, ich hoffe es. Ansonsten mache ich mich hier gerade zum Idioten, aber ich finde, du solltest es wissen und wenn es doch nicht so-"

Ich unterbreche Henrys Wortschwall mit meinen Lippen, die ich ohne nachzudenken auf seine drücke. Er seufzt leise und legt seine Hand in meinen Nacken. Ich lehne meine Stirn an seine und flüstere: „Sind das die Kolibris?"
„In deinem Bauch?"
Ich nicke.
„Ja, die habe ich auch. Und sie waren wie tot als du gingst. Mir ging es sehr schlecht, als du weg warst, Maxwell", wispert Henry leise.
„Tut mir leid."
„Ich weiß. Aber bitte mach es nicht nochmal."
„Okay."
„Und jetzt?"
„Pizza? Ich fürchte, von Glutamat wird mir schlecht."
„Gute Idee. Aber keine Ananas."
„Natürlich nicht. Ich bin doch kein Axtmörder."

Henry sieht mich mit großen Augen an.
„Hast du gerade einen Witz gemacht, Maxwell?"
Ich merke, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet.
„Nein", sage ich gespielt entsetzt. „Ich habe wirklich einmal einen Artikel darüber gelesen."
„Ich habe wohl einen schlechten Einfluss auf dich, wenn du jetzt schon Witze reißt", kichert Henry.
Ich schüttele den Kopf und küsse vorsichtig seinen Mundwinkel.
„Ich finde, du hast einen sehr guten Einfluss auf mich."

Etwa zwei Stunden später sitzen Henry und ich auf meinem Bett, zwischen uns ein Pizzakarton, in dem eine halb aufgegessene Vier-Käse-Pizza liegt. Wir haben nur die eine bestellt und selbst diese nicht geschafft. Ich liege mit dem Rücken auf einem
Stapel Kissen und Henrys Kopf liegt auf meiner Brust, mein Arm um seine Schulter gelegt. Auf meinem Schoß steht das Tablet und wir schauen eine Dokumentation über die Erde. Ich denke, dass es eine über die Erde ist, denn ich konzentriere mich statt auf die Dokumentation lieber auf das Gefühl, Henrys Nähe zu spüren.

Wortliebe | ✓Where stories live. Discover now