Petrichor

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Nachdem ich mich etwas beruhigt habe und fast alle Passagiere außer uns das Flugzeug verlassen haben, fragt Henry mich vorsichtig: „Besser?"
Ich nicke und lehne meinen Kopf zurück. Wir schälen uns aus der engen Sitzreihe und gehen zum Ausgang des Flugzeugs.
„Einen schönen Aufenthalt in Key West", piepst eine blonde Flugbegleiterin und strahlt uns mit perlweißen Zähnen an, als wir die Höllenmaschine durch die geöffnete Luke verlassen.

Ich bin überrascht, wie feucht und mild die Luft ist, die mir entgegenschlägt. Im Gegensatz zum New Yorker Flughafen gibt es keine Gangway und wir gehen über eine schmale Treppe direkt hinab auf das Rollfeld. Das Bedürfnis, mich hinzuknien und wie der Papst den Boden zu küssen, überkommt mich, aber ich widerstehe dem Drang. Ein feiner Regen tröpfelt auf den warmen Asphalt und ich atme tief ein.

„Petrichor", sagt Henry neben mir. Ich drehe mich zu ihm und sehe, wie er einfach nur mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf seinen Lippen dasteht und tief ein- und ausatmet. „Der schönste Geruch der Welt. Ich wünschte, man könnte ihn irgendwie auffangen."
„Regen?", frage ich.
„Ja, Regen, der auf warmen Asphalt trifft. Dieser einzigartige Duft. Petrichor."
Ich lächele und greife nach meinem Dezemberbuch, das unter meinem Arm klemmt. Henry brummt und schüttelt den Kopf, ohne gesehen zu haben, was ich tue.
„Später schreiben, jetzt riechen. Es hält nicht lange vor", murmelt er und ich gehorche.

Ich schließe meine Augen und atme tief durch die Nase ein, so dass ich fast in diesem unbeschreiblichen Geruch ertrinke. Kleine, warme Tropfen fallen auf mein Gesicht und ich höre ein leises Kichern, bis ich feststelle, dass ich dieses Geräusch erzeuge.
Auf einmal nimmt Henry meine Hand und zieht mich mit sich zum Flughafengebäude.
„Komm", ruft er fröhlich. „Koffer holen und dann ab ins Hotel. Die haben auch einen Pool!"

Im Terminal stehen wir wartend am Gepäckband und ich bin froh, als ich mein senfgelbes Kofferband zwischen den ganzen Gepäckstücken aufblitzen sehe. Überall wimmelt es von Menschen, überwiegend Rentnern, die vermutlich die kalten Monate und die Feiertage in einer wärmeren Region verbringen möchten. Ich bin schon jetzt vollkommen reizüberflutet von den ganzen Eindrücken.

Erst der Flug, nun unzählige unberechenbare Menschen, die durcheinander laufen, durcheinander reden, schreien und am Gepäckband drängeln. Durchsagen schallen durch die Lautsprecher, eine Frau trägt einen Hund in ihrer Handtasche, ein älterer Mann wechselt mitten zwischen all den Menschen sein Hemd und eine andere Frau sprüht sich mit schwer süßem Parfum ein.

Henry drückt meine Hand und sagt: „Beweg dich nicht. Ich rette unsere Koffer und bin sofort wieder bei dir." Mit diesen Worten geht er los und ich verfolge gespannt, wie er sich seinen Weg durch das Meer aus grauen Haaren, Toupets und Strohhüten bahnt. Ich versuche, konzentriert und ruhig zu atmen, als ich ihn aus den Augen verliere. Was, wenn er mich auf dem Rückweg nicht wiederfindet? Hat er überhaupt sein Handy in der Tasche? Ich weiß gar nicht, in welchem Hotel wir übernachten. Wann hat er überhaupt das Hotel gebucht?

Ich presse angestrengt meine Handballen gegen meine Augen und atme flach durch den Mund, denn die Parfumwolke löst eine weitere Welle der Übelkeit in mir aus.
„Junger Mann?", krächzt es plötzlich vor mir und jemand tippt eilig an meinen Oberarm. Das Tippen macht mich wahnsinnig. Ich nehme eine Hand herunter und sehe eine kleine, faltige Frau mit einer riesigen Sonnenbrille vor mir. „Haben Sie vielleicht einen grünen Koffer gesehen?"

Ohne zu reagieren, halte ich mir meine Augen wieder zu, doch sie redet einfach weiter.
„Eben war er noch auf dem Band. Doch jetzt ist er nicht mehr da. Kommen die Koffer, die schon auf dem Band waren, wieder zurück? Wissen Sie das? Hallo? Hallo?"
Das nervige Tippen an meinem Arm lässt nicht nach und ich höre ein Wimmern, das meiner Kehle entkommt.
„Nicht anfassen", stöhne ich und sie antwortet mit einem: „Hä? Was? Hallo? Hallo?"

Ohne Rücksicht tippt ihr knochiger Zeigefinger weiter gegen meinen Arm und ich stöhne immer lauter hinter meinen Händen: „Nicht anfassen, oh Gott, nicht anfassen."
„Was? Was?", krächzt sie und plötzlich stoße ich ihren Arm weg und schreie lauthals: „Nicht anfassen!"
Entsetzt steht ihr Mund offen, ihre Sonnenbrille lässt ihr Gesicht wirken, als hätte sie die Augen einer gigantischen Stubenfliege und alle Umstehenden starren mich an.

Ich kneife meine Augen zusammen und presse meine Hände gegen meine Ohren und will einfach nur nach Hause. In meine sichere Wohnung, in mein sicheres Bad, auf meine sicheren Fliesen. Weg von all diesen Menschen, die reden und riechen und mich anfassen.
„Maxwell", rettet mich Henrys sanfte Stimme. Er legt seinen Arm um meine Hüfte und schmiegt sich an mich. „Ich habe unsere Koffer."
„Haben Sie einen grünen Koffer gesehen?", zetert die alte Frau nun ihn an.
„Ja, der dreht gerade seine achte Runde. Beeilen Sie sich lieber, nach zehn bleiben sie weg", antwortet er gelassen und durch ein leicht geöffnetes Auge sehe ich, wie das tippende, kleine, stubenfliegenartige Monster sich in Richtung Gepäckband bewegt.

„Alles okay?", fragt Henry dicht bei mir und ich schüttele den Kopf.
„Komm, wir bringen dich erst mal weg von hier", beruhigt er mich. Ich spüre, wie er mir den Griff meines Rollkoffers in die eine Hand drückt und meine andere fest von seinen weichen, warmen Fingern umschlungen wird. Wir setzen uns langsam in Bewegung und Henry bahnt uns den Weg sicher durch die Massen, während ich nur ihn anstarre und mich auf das Gefühl von meiner Hand in seiner konzentriere.

Vor dem Flughafengebäude winkt Henry uns ein Taxi heran und ehe ich mich versehe, steigen wir vor einem imposant wirkenden Hotel aus, vor dem sogar ein roter Teppich ausliegt. Ein uniformierter Page nimmt bereits unsere Koffer aus dem Wagen und statt mich zu fragen, wie Henry sich so eine Unterkunft für uns leisten kann und vor allem, wann er es geschafft hat, das Hotel zu buchen, grübele ich eher darüber nach, ob der Page wohl an wärmeren Tagen zumindest den obersten Knopf an seiner engsitzenden Uniform öffnen darf.

Die Prozedur des Eincheckens bekomme ich nicht mit, ich bin zu beschäftigt damit, die riesige Lobby, in der sich bedeutend weniger Menschen als am Flughafen aufhalten, zu betrachten.
„Komm, Maxwell", sagt Henry und nimmt wieder meine Hand. Anstelle des Fahrstuhls benutzen wir die Treppe und ich bin mehr als dankbar dafür, dass Henry so umsichtig ist.

Das Schloss der weißen Holztür unseres Zimmers öffnet sich mit einem Piepen, nachdem Henry eine kleine weiße Karte davor hält und wir betreten das Doppelzimmer, das in schlichten hellgrauen und türkisfarbenen Tönen gehalten ist.
Direkt neben dem Eingang öffnet Henry eine weitere Tür und dahinter sehe ich ein Badezimmer mit Fliesen.

Er zwinkert mir zu und sagt nur: „Ich denke, die Fußbodenheizung wird eine vollkommen neue Erfahrung für dich."

Wortliebe | ✓Donde viven las historias. Descúbrelo ahora